Als Mitglied des BMBF-Zukunftskreises unterstützen Sie als Teil eines interdisziplinären Expert*innen-Teams die Bundesregierung dabei, die Zukunft vorausschauend zu gestalten. Welche Arbeitsschwerpunkte und Perspektiven bringen Sie in den Zukunftskreis mit ein?
Geraldine de Bastion: Vieles in meiner Arbeit dreht sich um die Frage, wie dir den digitalen Wandel unserer Gesellschaft sozial gerecht, offen und nachhaltig gestalten können. Als Politikwissenschaftlerin und Digitalexpertin versuche ich, eine humanistische und menschenrechtsfokussierte digitale Gesellschaft mitzugestalten. Durch meine Arbeit in zivilgesellschaftlichen und gemeinnützigen Organisationen und langjährige Erfahrungen in der internationalen Zusammenarbeit versuche ich außerdem, eine globale und soziale Perspektive in den Zukunftskreis einzubringen. Ich bin täglich inspiriert von der Arbeit unterschiedlicher Innovator*innen, die mit lokalen Ressourcen und offenen Technologien neue Lösungen für alte Entwicklungsprobleme finden – daher hoffe ich auch, dass ich durch die Weitergabe solcher Erfahrungen dabei helfen kann, dass wir stets über unseren Tellerrand schauen.
Welche Megatrends werden Ihrer persönlichen Einschätzung nach in den nächsten 10 Jahren unsere Gesellschaft am stärksten verändern?
de Bastion: In den kommenden zehn Jahren werden unsere Gesellschaften durch den Klimawandel und die dadurch entstehenden Fragen der Ressourcenverteilung und generationellen Gerechtigkeit geprägt werden. Hinzu kommen die anhaltenden Veränderungen durch Digitalisierung bzw. Datafizierung, Automatisierung und Künstliche Intelligenz.
Welche Methoden der »strategischen Vorausschau« sind Ihrer Meinung nach besonders geeignet, um in die Zukunft zu schauen?
de Bastion: Neben den quantitativen Methoden braucht es aus meiner Sicht auch qualitative Ansätze, um in die Zukunft zu schauen. In ihrem 2018 TEDx Cambridge Talk erklärt die Ethnographin und Datenwissenschaftlerin Tricia Wang, warum 73% der Projekte in der Big-Data-Branche im Wert von 122 Milliarden Dollar nicht profitabel sind. »Mehr Daten zu haben, hilft uns nicht, bessere Entscheidungen zu treffen« – Weil wir wichtige Perspektiven auslassen, um die Daten zu kontextualisieren, würde ich ergänzen. Tricia Wang plädiert für die Humanisierung von Daten – aus »Big Data« können laut Wang »Thick Data« entstehen, indem sie mit nicht quantifizierbaren, qualitativen Daten angereichert werden, die aus einer ethnografischen Perspektive gesammelt wurden und somit »Bedeutungstiefe« liefern. In seinem re:publica Talk »The Political Tragedy of Data-Driven-Determinism« erklärt Mushon Zer-Aviv 2018, wie die Utopie eines Mannes der schlimmste Albtraum eines anderen sein könnte und weswegen wir uns die Zukunft nicht als eine lineare, deterministische Zukunft vorstellen sollten. Stattdessen müssen wir uns die Zukunft als Plurale vorstellen. Da es uns tendenziell leichter fällt, unerwünschte Zukünfte in Form von Dystopien zu formulieren, benötigen wir Werkzeuge zur Entwicklung wünschenswerter Zukünfte. Hierzu gehören spekulative und kreative Methoden, die sich aus dem Produktdesign, der Videospielentwicklung und der Science-Fiction-Literatur speisen können.
Ein besonderer Fokus Ihrer Arbeit sind Gerechtigkeit und Teilhabe mit Blick auf digitale Technologien. Was hat die Digitalisierung z.B. mit Gendergerechtigkeit zu tun?
de Bastion: Wenn Digitalisierung das Betriebssystem unserer heutigen Gesellschaft ist, dann sollten auch alle Menschen daran teilhaben und sie gleichberechtigt nutzen, aber auch mitgestalten können. Leider ist das heute nicht der Fall. Weniger als 20% der IT-Fachkräfte in Deutschland und Europa sind Frauen, über 90 von 100 EUR gehen ausschließlich an männliche Gründerteams. In Deutschland haben wir einen klassisch geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarkt, wie sich in zahlreichen gender gaps zeigt. Bei uns ist zudem die Verteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen besonders ungleich. Daher müssen wir dafür sorgen, dass wir Digitalisierung nutzen, um diese Lücken zu schließen, statt sie zu vergrößern.
Mit Ihrem Beratungsunternehmen Konnektiv beraten Sie u.a. auch Regierungen und NGOs zum strategischen Einsatz digitaler Technologien, etwa für die Entwicklungszusammenarbeit. Welche Rolle können diese Technologien für eine nachhaltige Entwicklung des globalen Südens spielen?
de Bastion: Früher war einer der Traumberufe vieler junger Menschen aus sogenannten Entwicklungsländern, bei großen UN-Organisationen zu arbeiten. Heute wollen, ebenso wie bei uns, viele von ihnen Startups gründen oder anders mit digitalen Medien ihr Geld verdienen – Leapfrogging nennt man dieses Überspringen von Entwicklungsstufen, also z.B., dass Agrarökonomien den Schritt der Industrialisierung überspringen und direkt zu Digital-Ökonomien werden. Lokale Startups und Digital-Initiativen tragen hierzu ebenso bei wie von größeren Unternehmen entwickelte Schlüsseltechnologien, z.B. in Form des mobilen Bezahlsystems MPESA. Digitalisierung kann natürlich soziale Gräben verstärken, aber hat außerdem tiefgreifende positive soziale und ökonomische Auswirkungen und teilweise vollkommen neue Wirtschaftskreisläufe hervorgebracht. Ob in einem Krankenhaus mit 3D-Druckern Maschinen repariert statt kostspielig importiert und ersetzt werden, in Schulen mit lokal hergestellten Tablets und Lernsoftware Kinder spielend programmieren lernen oder Farmer mit täglich aktuellen Marktpreisen und Anbauempfehlungen per Handy-App versorgt werden: Die Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien für Entwicklungszwecke sind ebenso vielfältig wie bei uns.
In vielen Ländern Afrikas steht Digitalisierung viel weiter oben auf der zivilgesellschaftlichen und politischen Agenda als in Deutschland. Viele Regierungen zeigen großes Interesse und Investitionsbereitschaft für den Ausbau digitaler Infrastruktur. Es besteht keine klassische Trennung mehr zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen, was digitale Innovationskraft angeht. Das Selbstverständnis, dass Entwicklungszusammenarbeit ein reziproker Austausch ist, bei dem beide Seiten partnerschaftlich zusammenarbeiten und gegenseitiges Lernen stattfindet, sollte einer modernen Entwicklungszusammenarbeit zugrunde liegen.
Digitale Geschäftsmodelle sind bislang oftmals von Machtkonzentration, Informationsungleichgewichten und Intransparenz geprägt, etwa in Bezug auf den Umgang mit persönlichen Daten. Wie könnten aus Ihrer Sicht digitale und gleichzeitig nachhaltige, sozial gerechte Geschäftsmodelle aussehen?
de Bastion: Wir brauchen digitale Infrastrukturen die gemeinwohl-, statt nur profitorientiert sind. Es gibt derzeit spannende Forschungsprojekte dazu, wie z.B. Plattform-Ökonomie auf Basis sozial-marktwirtschaftlicher Geschäftsmodelle fairer bzw. weniger machtzentriert sein könnte, als sie es heute ist, z.B. in Bezug auf Steuergerechtigkeit oder Lock-in-Effekte (Anm. d. Red.: Marketingstrategien zur Kundenbindung, mit welchen Barrieren den Wechsel des Anbieters erschweren, z.B. in Form von Kosten oder Aufwand) für Kund*innen und Beschäftigte. Hierzu gehört das Projekt »Platform Alternatives«, das vom Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) und dem Oxford Internet Institute umgesetzt wird. Genauso spannend ist die Arbeit von der von Ela Kagel mitgegründeten Initiative »Platform Cooperative«.
Kooperative Plattform-Modelle sind ein Zukunftsmodell. Soziale Kommunikationsplattformen, die nach den Prinzipien öffentlich-rechtlicher Medien gestaltet sind, wären ein weiteres. Eine sozial-nachhaltige Digitalisierung bedarf aber mehr. Das Kerngeschäftsmodell des Internets, das auf Werbung und Überwachen basiert, ist kaputt. Wir brauchen ein neues Geschäftsmodell für das Internet, das nicht auf personalisierter Werbung beruht.
Was wir außerdem brauchen, ist Förderung und Skalierung für offene, kooperative Ansätze, denn von alleine werden sich keine Alternativen entwickeln. Wir brauchen Gestaltungswillen statt Ohnmacht. Es gibt viele neue Ideen, wie Datenteilung zwischen privaten Konzernen und Staaten in Zukunft gemeinwohlorientiert funktionieren könnte – hierfür muss man regulative Rahmen schaffen.
Die Zukunft vorherzusehen, ist das Eine – sie zu gestalten, steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt. Warum ist es so wichtig, dass die Zukunft nicht nur von »Expert*innen« gemacht wird, sondern im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses? Und wie konkret kann die Zivilgesellschaft aktiv am Gestaltungsprojekt »Zukunft« beteiligt werden?
de Bastion: In einer Zeit vor Corona war eines meiner Lieblingshobbies, mich mit Taxifahrer*innen über die Zukunft des selbstfahrenden Autos zu unterhalten. Die allerwenigsten verweigern es, den technischen Wandeln anzuerkennen, die meisten sind voller Ideen für ihre persönliche berufliche Zukunft und die ihres Fahrzeugs. Es ist anmaßend, davon auszugehen, dass man besser in der Lage ist, die Zukunft für andere mitzubestimmen, nur weil man etwas Bestimmtes studiert hat. Ich möchte, dass Menschen, deren Berufe durch Automatisierung ersetzt werden, Künstler*innen und vor allem junge Menschen an der Gestaltung unserer zukünftigen Gesellschaft mitwirken können. Partizipation und Beteiligung ist ein komplexes, aufwändiges und auch oft kostspieliges Unterfangen. Dennoch zeigen z.B. Smart City-Projekte und Projekte wie MakeSense aus Barcelona oder Smarter Together Vienna, wie groß der Mehrwert sein kann, Büger*innen mit einzubeziehen – nicht nur für die Akzeptanzsteigerung, sondern mittels Co-Kreation von Ideen und Lösungsansätzen. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass dauerhafte Beteiligungsprozesse etabliert werden, statt nur punktuell oder projektbezogen Partizipation zu ermöglichen.
Wenn Sie sich ein persönliches Bild einer »guten« Zukunft malen könnten, in dem die Chancen dieser Trends gut genutzt und die Risiken vorausschauend minimiert wurden – wie sähe dieses Bild aus?
de Bastion: Ich verwende gerne den Begriff »wünschenswert« im Sinne eines Kategorischen Imperativs nach Kant: Denn wie bereits gesagt, ist »gut« für die einen nicht immer gut für die anderen. Eine wünschenswerte Zukunft wäre für mich eine, in der wir den Balanceakt zwischen dem immer größer werdenden Individualismus mit kollektivistischen und gemeinschaftlichen Interessen hinbekommen. Also, zum Beispiel eine Zukunft, in der gemeinwohlorientiertes Datenmanagement von einer individuellen digitalen Souveränität ausgeht. Eine Zukunft, in der wir digitale Medien nutzen, um Intersubjektivität und Empathie zu stärken, statt uns in informationellen Blasen abzuschotten. Des Weiteren hoffe ich, dass wir digitale Technologien nutzen können, um die Ressourcenverteilung fairer zu gestalten, statt, wie es gerade bei Krypto-Währungen der Fall zu sein scheint, neue, kapital-fokussierte Eliten zu stärken.
Aus meiner Sicht braucht es hierzu verschiedene Voraussetzungen: Wir brauchen ein offenes, pluralistisches Internet, gemeinwohlorientierte Geschäftsmodelle und eine Umverteilung der von großen Technologiekonzernen akkumulierten Daten und Geldbestände. Es braucht massive Förderung digitaler Bildung, nicht nur in der Schule, sondern in allen Lebensbereichen. Es braucht eine staatliche Förderung für soziale, ökologische, digitale Innovation und ein Umdenken in Bezug auf unsere heutigen Innovationsmechanismen, die momentan dazu führen, dass Daten und Wissen in den Händen privater Eigentümer liegen und somit nicht für alle zugänglich sind.
Digitalisierung sollte genutzt werden, um soziale Gräben zu bekämpfen, statt sie weiter zu verstärken. Ein Thema, mit dem vor uns vor kurzem im Zukunftskreis befasst haben, ist die Frage, wie unsere Arbeits- und Lebenswelten in Zukunft aussehen sollen – hier ist die soziale Spaltung während der Corona-Pandemie sehr deutlich zu sehen: Es gibt Menschen, die von der virtuellen Büroumgebung profitieren und jene, die es nicht tun. Bereits heute verursachen Diskussionen um ein Recht auf Homeoffice Spannungen zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen, Arbeitgebern und Arbeitnehmer*innen. Mit der Zunahme der virtuellen Büros wird soziale Interaktion ein immer kostbareres Gut in unserer Leistungsgesellschaft. Daher bedarf es neuer Werte und Sozialstrukturen. Eine Kernfrage wird sein: Wie können wir also die Vorteile der Digitalisierung nutzen, um Ressourcen zu sparen und eine bessere Balance zwischen Beruf und Privatleben herzustellen, ohne bestimmte Bevölkerungsgruppen noch weiter zu benachteiligen und zur Vereinsamung bzw. der Bildung sozialer Blasen weiter beizutragen?
Geraldine de Bastion ist Politikwissenschaftlerin mit interkulturellem Hintergrund und Erfahrungen in der Arbeit mit Aktivist*innen, Regierungen, Start-ups und NGOs auf der ganzen Welt. Ihre Arbeit konzentriert sich auf digitale Transformation und internationale Zusammenarbeit, Innovation und Menschenrechte. 2013 gründete sie das Beratungsunternehmen Konnektiv und das gemeinnützige Netzwerk Global Innovation Gathering. Zudem ist sie Mitglied des Smart City-Beirats der Stadt Berlin und Mitglied des »Zukunftskreises« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und steht dem Ministerium im Hinblick auf Zukunftstrends beratend zur Seite.
Dieses Interview ist Teil unserer Interviewreihe »Zukunft gestalten« in Kooperation mit der Kampagne Strategische Vorausschau des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Entdecke weitere Perspektiven von Expert*innen des Zukunftskreises zum Leben und Arbeiten in der Zukunft:
Über den Zukunftskreis
Die Strategische Vorausschau ist für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen zu bekommen. Ziel ist es, die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Hierfür wurde der sogenannte Zukunftskreis berufen: 16 Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen beraten das BMBF hinsichtlich Zukunftstrends. Aber auch den Bürgerinnen und Bürgern bieten die Ergebnisse der Vorausschau eine gute Orientierung für die Zukunft. Mehr Informationen unter: vorausschau.de.