Als Mitglied des BMBF-Zukunftskreises unterstützen Sie als Teil eines interdisziplinären Expert*innen-Teams die Bundesregierung dabei, die Zukunft vorausschauend zu gestalten. Welche Arbeitsschwerpunkte und Perspektiven bringen Sie in den Zukunftskreis mit ein?
Prof. Martina Schraudner: Der Zukunftskreis besteht nicht nur aus Wissenschaftler*innen, sondern ist bunt gemischt. Wir haben alle verschiedene fachliche Hintergründe, arbeiten als Angestellte oder Selbstständige, sind unterschiedlichen Alters, leben in Städten und auf dem Land. Das finde ich sehr positiv und spannend, da ich einerseits inter- und transdisziplinäres Arbeiten für sehr wertvoll und zielführend halte – und mich in meiner Forschung und Arbeit auch genau damit beschäftige. Andererseits sehe ich für eine im Sinne des Gemeinwohls erfolgreiche Zukunftsgestaltung die Notwendigkeit, die Gesellschaft an Innovationsprozessen zu beteiligen und gesellschaftliche und technologische Innovation zu verknüpfen.
Meine Erfahrung mit transdisziplinärem Arbeiten hat gezeigt, dass aus Kooperationen oft Unerwartetes, völlig Neues entsteht. Die Zusammenarbeit mit Gestaltung und den Künsten bedeutet beispielsweise weit mehr, als Ergebnisse hübsch zu präsentieren. Sie verfügen über ein ganz eigenes Methodenrepertoire, das in Verbindung mit z. B. sozialwissenschaftlichen Methoden zu neuen Erkenntnissen führen kann. Gerade im Foresight-Prozess sind viele Perspektiven und Ansätze und ein frischer, anderer Blick besonders wichtig. Allerdings muss dieser Blick in beide Richtungen übersetzt werden, und auch für andere Fach-Communities anschlussfähig gemacht werden.
Welche Megatrends werden Ihrer persönlichen Einschätzung nach in den nächsten 10 Jahren unsere Gesellschaft am stärksten verändern?
Schraudner: Das Thema Nachhaltigkeit wird uns am meisten beschäftigen. Die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen, allen voran der Klimaschutz, werden der Maßstab allen Handelns: für Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Auch Verbraucher*innen wird die Kreislaufwirtschaft neue Verhaltensweisen abverlangen. Diese sozialen Innovationen anzustoßen, ist ein großer nächster Schritt. Da ist noch viel zu tun. Aber das gilt natürlich auch für die vielen neuen Geschäftsmodelle, die hier entwickelt und eingeführt werden müssen.
Sie sind Leiterin des Fachgebiets »Gender und Diversity in der Technik und Produktentwicklung« an der TU Berlin. Dies klingt zunächst nach einer ungewöhnlichen Themenkombination. Was haben Gendergerechtigkeit und Diversity mit technischer Produktentwicklung zu tun?
Du suchst nach einem Job mit Sinn?
Du suchst nach einem Job mit Sinn?
Schraudner: Ich betreibe keine Gender Studies im eigentlichen Sinne. Ich sehe in der Beachtung von Vielfalt auch jenseits der Geschlechterdimension großes Innovationspotenzial, das aktuell nicht genutzt wird. Technologieentwicklung ist aktuell eine »Self-fulfilling Prophecy«: Technikaffinität wird gemeinhin mit jungen Männern gleichgesetzt – und Technik deshalb auch genau für diese Zielgruppe entwickelt. Mehr Perspektivenvielfalt in der Entwicklung kann nicht nur andere Zielgruppen erschließen, sondern wird auch andere Wertvorstellungen integrieren und letztlich so auch zu mehr Innovation führen.
Mit Sicherheit gibt es nicht nur aus Perspektive der Arbeitnehmer*innen gute Gründe, sich mit Diversity zu aktiv zu beschäftigen. Welche Vorteile haben Unternehmen und Organisationen davon, die Vielfalt innerhalb der Belegschaft und Führungsetagen zu fördern?
Schraudner: Das ist heute keine Frage mehr, sondern akzeptierter Fakt, wie zum Beispiel die Zahlen einer ganz aktuellen Studie von Kantar beweisen. 82 Prozent der Befragten erwarten eine Verbesserung in Bezug auf die Wirtschaft, wenn Frauen und Männer wirklich gleichgestellt wären. Fast alle dieser großen Mehrheit sind der Meinung, dass vielfältigere Meinungen und Perspektiven eingebracht würden, die letztlich dazu führen, dass Unternehmen erfolgreicher werden und bessere Produkte und Angebote entwickeln. Für die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) bedeutet die Berücksichtigung von vielfältigen Perspektiven zum Beispiel, dass wir unseren Beratungsauftrag noch besser erfüllen können. Unsere Arbeit ist damit wahrhaftig am »Gemeinwohl« mit seinen vielen Dimensionen orientiert.
Die Befragten der Kantar-Studie erwarten auch eine Linderung des Fachkräftemangels durch bessere Gleichstellung. Ein Grund dafür könnte der Abbau von Geschlechterstereotypen sein, der sich vor allem in MINT-Fächern bemerkbar machen könnte.
Die Zukunft vorherzusehen, ist das Eine – sie zu gestalten, steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt. Warum ist es so wichtig, dass die Zukunft nicht nur von »Expert*innen« gemacht wird, sondern im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses? Und wie konkret kann die Zivilgesellschaft aktiv an verantwortungsvollen Innovationsprozessen beteiligt werden?
Schraudner: Für den am Gemeinwohl orientierten Erfolg von Innovationsprozessen ist es entscheidend, dass die Zivilgesellschaft auf Augenhöhe mitdiskutieren kann, sich eine informierte Meinung bilden kann. So können Bürger*innen Chancen erkennen und eine Entscheidung treffen, welche sie nutzen wollen – und welche eben nicht. Dazu benötigen sie die relevanten Informationen vorab und nicht erst, wenn von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik Tatsachen geschaffen worden sind. Mittlerweile genügt es auch nicht mehr, Informationen in Wort und Schrift zu kommunizieren, um in eine möglichst breite Diskussion mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu kommen. Wir brauchen neue Kommunikationskanäle, digitale und analoge Dialogformate, die den direkten Austausch ermöglichen. Wie das aussehen kann, zeigt ein Projekt, dass wir unter der Leitung von acatech demnächst zusammen mit den ARD Sendeanstalten starten – Stadt.Land.Chancen.
Wenn Sie sich ein persönliches Bild einer »guten« Zukunft malen könnten, in dem die Chancen der großen Trends gut genutzt und die Risiken vorausschauend minimiert wurden – wie sähe dieses Bild aus?
Schraudner: In »meiner« Zukunft ist Nachhaltigkeit nicht nur ein globaler Trend, sondern auch stark in der Region verankert und lässt dort neue, stärkere Innovationslandschaften entstehen. Die Pandemie hat diese Entwicklung schon beschleunigt. Sie hat uns auch noch einmal sehr klar gezeigt, dass sich Innovationsprozesse aktuell nicht nur extrem beschleunigen, sondern auch mehrere parallel ablaufen, und zwar technologische wie gesellschaftliche. Es gibt nicht länger das eine Wertesystem, das klar und allgemeingültig definiert ist. Die Vielfalt wird auch in der Region viel stärker spürbar sein. Das verlangt von den Menschen ständige Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit – und das ist gleichzeitig auch eine Voraussetzung für Innovation. Zukunft ist zwar manchmal unbequem, aber wir haben auch die Möglichkeit, sie sehr spannend mitzugestalten.
»Zukunft so zu gestalten, dass es dabei gefühlt nicht um die Zukunftschancen der ›anderen‹ geht, sondern jede und jeder daran teilhaben kann - das ist mein Anspruch an meine Arbeit.«
Prof. Dr. Martina Schraudner leitet das Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation und hat eine W3-Professur »Gender und Diversity in der Technik und Produktentwicklung« an der Technischen Universität Berlin. Seit Januar 2018 ist sie im Vorstand der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V. Sie befasst sich mit Methoden, Instrumenten und Prozessen, die Diversity, verstanden als unterschiedliche Perspektiven, in Forschung und Entwicklung zugänglich und nutzbar machen. Sie ist zudem in Expertengruppen u.a. für »Structural Change« der EU und ist in nationalen und internationalen Auswahlgremien für anwendungsnahe Forschungs- und Innovationsprojekte tätig. Sie ist u.a. Mitglied im Hochschulrat der Universität Paderborn, im Vorstand des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V. sowie im Vorstand der Technologiestiftung Berlin.
Dieses Interview ist Teil unserer Interviewreihe »Zukunft gestalten« in Kooperation mit der Kampagne Strategische Vorausschau des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Entdecke weitere Perspektiven von Expert*innen des Zukunftskreises zum Leben und Arbeiten in der Zukunft:
Über den Zukunftskreis
Die Strategische Vorausschau ist für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen zu bekommen. Ziel ist es, die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Hierfür wurde der sogenannte Zukunftskreis berufen: 16 Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen beraten das BMBF hinsichtlich Zukunftstrends. Aber auch den Bürgerinnen und Bürgern bieten die Ergebnisse der Vorausschau eine gute Orientierung für die Zukunft. Mehr Informationen unter: vorausschau.de.