Mit eurer Marke Wildling Shoes fertigt ihr nachhaltig produzierte Schuhe, die auch gut für die Gesundheit der Füße sind. Was macht das Tragegefühl eurer Schuhe so besonders und inwieweit unterscheidet sich die Passform von »normalen« Alltagsschuhen?
Anna Yona: Ein Gefühl wie barfuß, das ist es, was wir mit unseren Minimalschuhen ermöglichen möchten. Mit »minimal« meinen wir: Nur so viel Schuh, wie unbedingt nötig, um den Fuß zu schützen. Das bedeutet, dass die Sohle unserer Schuhe nur zwischen 1,5 und 4,5 Millimeter dünn ist, so dass man trotz Schuh den Untergrund wirklich spüren kann.
Wer in Minimalschuhen unterwegs ist, fordert die eigene Fußmuskulatur und aktiviert sie dadurch. Die flexible, freie Bewegung der Füße trainiert die Muskulatur und führt außerdem zu einer besseren Balance und Trittsicherheit, weil der ganze Körper lernt, sich auf die Bodenverhältnisse einzustellen. Und wer starke, gesunde Füße hat, hat viel mehr Freude an der Bewegung.
Was ist die Geschichte hinter der Gründung von Wildling Shoes? Wie kam es zu der Idee?
Anna: Ich habe 12 Jahre in Israel gelebt, meinen Mann dort kennengelernt und unsere Kinder sind dort geboren. Ihre ersten Lebensjahre sind sie barfuß aufgewachsen und haben uns immer beeindruckt – mit ihren behänden, selbstsicheren und kräftigen Bewegungen.
2013 sind wir nach Deutschland zurückgezogen. Im Herbst mussten die ersten Schuhe gekauft werden, aber wir konnten selbst unter den teuersten Kinderschuhen kein Paar finden, mit dem unsere Kinder weiterhin natürlich laufen konnten und welche sie mit ihren Freiheit gewohnten Füßen tragen wollten.
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Es schien etwas grundlegend falsch zu sein mit herkömmlichen Kinderschuhen. Da ist bei uns der Gedanke entstanden, dass es an der Zeit ist für ein neues Konzept und eine neue Generation von Schuhen.
Welche konkreten negativen Auswirkungen kann schlecht passendes Schuhwerk auf die eigenen Bewegungsabläufe haben? Ist es möglich, dass diese durch Barfußlaufen (oder das Tragen von Barfußschuhen) ein Stück weit rückgängig gemacht werden können?
Anna: Die Füße müssen uns ein Leben lang (er-)tragen. Deshalb ist es wichtig, dass diese stark und gesund sind. Rund 98 % aller Kinder kommen mit gesunden Füßen auf die Welt, aber nur bei 20 % aller Erwachsenen bleibt das so. Kann sich der Fuß von Kindesbeinen an frei entfalten und bewegen, bildet er eine starke Muskulatur aus. In herkömmlichen Schuhen fehlt allerdings oft der Platz dazu. Der Zehenbereich läuft spitz zu, während der Fuß dort ja eigentlich breiter wird und entsprechend mehr Raum benötigt. Dicke, steife Sohlen und Fußbetten verhindern, dass die Fußmuskeln gefordert und entsprechend trainiert werden.
Das Resultat nach dem Tragen konventioneller, schlecht passender Schuhe: Oft eine rudimentär ausgebildete Muskulatur und verformte Zehen. Muskelschwächen begünstigen entsprechende Fehlstellungen wie Senk-, Platt-, Spreizfüße bereits im Kindergartenalter.
Mit dem Minimalschuh, den wir nach knapp zwei Jahren intensiver Arbeit entwickelt hatten, haben wir unser Ziel erreicht: Einen Schuh, der sich wie eine zweite Haut der Fußform anpasst, der den Fuß nicht stützt, sondern dessen Muskulatur stärkt. Damit wird der Fuß sowohl vor Verletzungen und Witterung geschützt als auch gleichzeitig so wenig wie möglich in seiner natürlichen Bewegung und im gesunden Wachstum beeinträchtigt. Eine kräftige Fußmuskulatur kommt dem ganzen Bewegungsapparat zu Gute. Sie fängt und federt die Aufprallenergie jedes einzelnen Schrittes auch auf härteren Böden wie bei einer Ziehharmonika ab. Davon profitieren dann auch z.B. die Knie- und Hüftgelenke.
Die Rückmeldungen unserer Kund*innen bestärken uns auf unserem Weg: Deren Füße regenerieren sich und viele laufen endlich wieder schmerzfrei, haben keine Beschwerden mehr, etwa an der Ferse, den Knien, am Rücken, am Kopf. Auch leichte Fuß- oder Zehenverformungen bilden sich durch das Stärken der Fußmuskulatur zurück. Kund*innen berichten über sanftere, natürliche Bewegungsabläufe und dass sie ihre Umgebung, den Untergrund auf dem sie laufen, viel achtsamer wahrnehmen als vorher. Auch das Gefühl von besserer Balance und Trittsicherheit hat bei vielen unserer Kund*innen dadurch zugenommen.
Aus welchen Materialien bestehen eure Schuhe und wo werden diese hergestellt? Durch welche Maßnahmen nehmt ihr eure soziale Verantwortung entlang der Lieferkette wahr?
Anna: Unsere Minimalschuhe werden in traditionellen Unternehmen in Portugal hergestellt. Wir verwenden, soweit möglich, reine Naturmaterialien europäischen Ursprungs aus meist kontrolliert biologischem Anbau, wie Bio-Baumwolle, Hanf, Wolle, Leinen, Kork, Papier. Mit Hanf-Flachsvlies haben wir auch eine rein vegane Alternative für den Winter. Auf Materialien für formgebende Elemente wie Zehen- oder Fersenkappen verzichten wir ganz bewusst, damit sich der Schuh dem Fuß anpassen kann und nicht andersherum. Für den Bezug aller Rohstoffe haben wir für uns strenge Kriterien festgelegt, nach denen wir unsere Lieferanten auswählen.
Die Sommermodelle sind mit den Oberstoffen Baumwolle, Hanf, Leinen oder dem japanischen Washi-Papier-Stoff luftig und unterstützen ein angenehmes Fußklima – auch bei hohen Temperaturen. Im Winter greifen wir gerne auf die wärmenden Eigenschaften naturbelassener Wolle aus kontrolliert biologischer Tierhaltung und aus Landschaftspflege-Projekten, wie zum Beispiel von unserem Partner Nordwolle Rügen, zurück. Um unsere Winter Wildlinge noch wetterbeständiger zu machen, sind sie mit einer umweltfreundlichen Imprägnierung vorbehandelt. Dadurch sind sie wasserabweisend und atmungsaktiv, was sie zu einer idealen Alternative zu Leder- oder Kunststoffschuhen macht.
Wildling möchte die Verbundenheit von Mensch und Umwelt stärken. Daher sind wir uns als produzierendes Unternehmen unserer ökologischen Verantwortung bewusst. Wir glauben daran, dass wir nur dann wirklich etwas bewegen können, wenn wir faire, ehrliche und langfristige Beziehungen zu unseren Partner*innen, Lieferant*innen und Hersteller*innen aufbauen und entsprechend pflegen. Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist hierbei eine Grundvoraussetzung. Intern im Team schaffen wir gemeinsam die Rahmenbedingungen, damit sich die Fähigkeiten jedes*jeder Einzelnen bestmöglich entfalten können. Transparenz und Flexibilität in unserer dezentralen Struktur machen dies möglich. Genau so transparent begegnen wir auch unserer Kundschaft und den Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten. Von Lieferant*innen und Produzent*innen über Kooperationspartner*innen und Dienstleistende bis hin zu unserer Community.
Zusätzlich arbeiten wir derzeit an einem sozialen Onboarding unserer Hersteller*innen, um die Sozialstandards entlang unserer Lieferkette zu erhöhen und im Einklang mit dem streng regulierten europäischen Arbeitsrecht zu vereinheitlichen. Hier spielen Themen wie etwa Living Wages und ergonomische Arbeitsplätze eine Rolle. Die ersten beiden Partnerunternehmen sollen in das Programm diesen Sommer aufgenommen werden.
Wie schafft ihr es, den ökologischen Fußabdruck eures Business möglichst klein zu halten?
Anna: Wir sind als Unternehmen immer dabei, den aktuellen Status zu hinterfragen und zu schauen, wo wir noch nachhaltiger werden und wo wir nicht nur »klimaneutral«, sondern »klimapositiv« und regenerativ wirken können. Damit ist gemeint, dass wir uns vom Bild verabschiedet haben, einen möglichst kleinen negativen CO2-Fußabdruck hinterlassen zu wollen, sondern wir wollen einen möglichst großen positiven Abdruck (Positive Impact) hinterlassen und zur Regeneration beitragen. Jedes einzelne Team beschäftigt sich mit Nachhaltigkeits- und Positive Impact-Themen.
Zu unseren Maßnahmen gehören natürlich Emissionskompensation und deren strategische Reduktion. Besonders wichtig sind für uns nachhaltig erzeugte Rohstoffe, möglichst kurze Transportwege und weitgehend innereuropäische Lieferketten.
Wir haben jetzt zum Beispiel die Möglichkeit, 100% recycelte Baumwolle zu verarbeiten und für unsere Schuhe zu nutzen. Gemeinsam mit Partnern erproben wir außerdem ganz neue Wege, beispielsweise mit Hanffasern aus regenerativer Landwirtschaft. Eines unserer Unternehmensziele besteht darin, bis 2025 komplett auf die Nutzung von Naturstoffen aus regenerativem Anbau oder Recycling umzustellen.
Deshalb arbeiten wir jetzt schon an ersten Schuhmodellen, die komplett recycelt werden können, und wir entwickeln aktuell ein Komplett-Reparaturangebot für unsere Produkte.
Die Beteiligung an »1% for the Planet« ist ein weiterer der vielen Schritte, die wir auf diesem Weg gehen. Wer sich als Unternehmen bei »1 % for the Planet anmeldet«, verpflichtet sich, ein Prozent des Jahresumsatzes an geprüfte Non-profit Organisationen zu spenden. Für uns ist das die Organisation »Rewilding Europe«, mit der wir uns zusammengeschlossen haben, um wildere, artenreichere Lebensräume entstehen zu lassen und damit einen Beitrag zur Regeneration von Ökosystemen und Kulturlandschaften zu leisten.
Was war eure größte Herausforderung beim Aufbau eures Unternehmens? Und was war euer bislang größter Erfolg?
Anna: Die Entwicklungsphase unseres Minimalschuhs war zugleich die größte Herausforderung und der größte Erfolg. Obwohl wir anfangs nicht wirklich viel Ahnung vom Schuhgeschäft hatten und alle unsere Ansprechpartner*innen und Expert*innen damals sagten, dass man so keinen Schuh herstellen kann, haben wir uns mit unseren Vorstellungen gegen die eher konventionelle Sichtweise in der Schuhindustrie durchgesetzt. Darauf sind wir heute schon ein kleines bisschen stolz.
Unser Wildling Team ist dezentral und digital organisiert. Das Team aufzubauen und die Teamkultur mit gelebten Werten zu pflegen, ist eine tägliche Herausforderung, der wir uns gerne stellen. Denn alle bei Wildling wollen so arbeiten. Das heißt alle, deren Präsenz nicht an einem bestimmten Ort, wie zum Beispiel in unserem Zentrallager im bergischen Engelskirchen bei Köln, erforderlich ist, können sich ihren Arbeitsplatz frei aussuchen – sei es nun der eigene Schreibtisch zuhause, der Lieblingssessel im Café oder ein Platz im Coworking Space. Auch hier gibt uns der Erfolg Recht: Innerhalb von knapp sechs Jahren ist die Zahl unserer Mitarbeitenden auf über 200 gewachsen.
Wie würdet ihr eure persönliche Mission beschreiben, die ihr mit Wildling Shoes verfolgt? Was genau bedeutet »positiver Impact« für euch?
Anna: Wildling versteht sich als Teil der »Re:generation« – der Generation, die jetzt alles tun muss, was nötig ist, um den großen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel und sozialer Ungerechtigkeit – zu begegnen. Das geht nur, indem man beginnt, auf allen Ebenen regenerative Ansätze zu definieren und umzusetzen.
Konkret bedeutet das, alle Bereiche der Wertschöpfungskette, aber auch Kommunikation, Unternehmenskultur, Tech und Finanzen genau unter die Lupe zu nehmen und Stück für Stück zu verändern. Am Beispiel der Wertschöpfungskette erstellen wir für jeden Schritt Konzepte, die mindestens keinen Schaden anrichten und besser noch einen positiven Impact hinterlassen. Bis 2025 wollen wir eine regenerative Wertschöpfungskette umgesetzt haben – vom Anbau unserer Rohstoffe in Agroforstsystemen, über die Umsetzung von Konzepten für ganzheitlichere Arbeitsmodelle und höhere Umweltstandards mit unseren Lieferant*innen, über eine verlängerte Lebensdauer des Produkts (durch Qualität und Reparatur) bis hin zu einem Schuh, der in Komponenten recycelt (neue Rohstoffe für neue Schuhe) bzw. kompostiert wird (Humus für unsere Anbausysteme). Damit schließt sich der Kreis.
Natürlich entstehen trotzdem negative Einflüsse (z.B. durch Transport und Lagerung). Diese gilt es zu minimieren und den Rest zu kompensieren. Da entlang der Wertschöpfungskette zusätzliche Vorteile entstehen – Zukunftsperspektiven für ländliche Bereiche, mehr Bodenqualität und CO-Bindung, sinnhaftere und gesündere Arbeitsplätze in der Produktion, mehr alternative Energiequellen, ein besseres Kundschaftserlebnis etc. – werden wir unter dem Strich eine positive Bilanz ziehen können.
Ähnlich funktioniert das für die anderen Bereiche – hier werden in jedem Team erst Probleme definiert, die gelöst werden müssen, und dann eine Vision entwickelt, wie man mit der eigenen Arbeit und für diesen speziellen Bereich einen positiven Impact schaffen kann.
Über Anna Yona
»Ein Stück Freiheit in ein paar Schuhe zu packen und damit buchstäblich etwas bewegen zu können – Das treibt mich an.«
Anna und Ran Yona gründeten das Unternehmen Wildling Shoes im Jahr 2015. Nach ihrem Studium der Nahost-Studien und der englischen Literaturwissenschaftan der Tel Aviv University, Stationen im Marketing sowie als freie Übersetzerin und Journalistin fand Anna dank Ran ihren Lebensmittelpunkt zunächst in Israel. Ihre drei Kinder wuchsen dort barfuß auf, bevor die Familie 2013 nach Deutschland zog. Die größte Herausforderung hier: Passende Schuhe für die barfuß laufenden Kinder zu finden. Kein Modell schien den Ansprüchen an Bewegungsfreiheit, nachhaltigen Materialien und fairer Produktion zu genügen. So war schnell die Idee von Wildling Shoes geboren.
Neugierig geworden? Hier geht es lang zur Webseite von Wildling Shoes.
Dieses Interview ist Teil unserer Interviewreihe »Fair Fashion« in Kooperation mit NEONYT – dem B2B Business Hub für Nachhaltigkeit in der Mode. Entdecke weitere außergewöhnliche Fair Fashion Brands:
NEONYT – Das B2B-Event für Nachhaltigkeit in der Mode vom 06. bis 08. Juli 2021
Die Fashion Week zieht dieses Jahr in ihre neue Heimat nach Frankfurt und mit ihr die drängenden Fragen der oft kritisierten Modebranche: Wie kann die Branche ihrer ökologischen und sozialen Verantwortung entlang der Wertschöpfungsketten gerecht werden?
Mit NEONYT gründet die Frankfurter Messe eine internationale B2B-Business- und Kommunikationsplattform, auf der sich nachhaltige Marken und Hersteller der Modebranche präsentieren und mit Fachleuten austauschen können. Im Fokus der verschiedenen digitalen Eventformate und Live-Channels stehen innovative Praxisbeispiele, wie die Sustainable Development Goals (SDGs) erfolgreich entlang der Lieferkette implementiert werden können.
Weitere Infos und den Link zur Anmeldung findest du auf der Homepage von NEONYT.