Mit eurem Startup SHITSHOW beratet ihr Unternehmen und Organisationen in Bezug auf psychische Gesundheit. Zahlreiche Studien deuten darauf hin, dass Krankheiten wie Depressionen und Burnout immer mehr Menschen betrifft. Wie hängen diese Erkrankungen aus deiner Sicht mit der modernen Arbeitswelt zusammen?
Nele Groeger: Es stimmt – Studien zeigen, dass psychische Erkrankungen immer häufiger auftreten, Expert*innen streiten sich jedoch darum, worin die Gründe dafür zu suchen sind. Wie viele von ihnen berechtigterweise anführen, hat der Anstieg der Diagnosezahlen auch mit einem offeneren gesellschaftlichen Umgang und der Enttabuisierung zu tun. Dabei wird aber häufig unter den Tisch gekehrt, dass wir uns auch in einer Lebens- und Arbeitswelt bewegen, die ganz neue Anforderungen an unsere Psyche stellt und mentale Belastungen zumindest begünstigt. Während sich bei der Frage nach der Arbeitskraft des Menschen der Blick früher zuallererst auf dessen physische Leistungskraft richtete und die Psyche vernachlässigt wurde, arbeiten wir heute in Berufen, die hohe kognitive, emotionale und soziale Anforderungen an uns stellen. Wir sind alle digital vernetzte Kopfarbeiter*innen, deren Privat- und Berufsleben zunehmend ineinander verschwimmen, die kooperieren und abstrahieren müssen, die schnell reagieren und sich auf Unsicherheiten möglichst flexibel einstellen sollen, die keine anhaltenden Sicherheiten in ihrer Erwerbsbiographie mehr haben, die sich zunehmend selbst führen und organisieren sollen – und die nicht zuletzt eine hohe emotionale Identifikation mit ihrer Arbeit haben sollen (und wollen). Das sind neue Stressoren, die man im Blick haben sollte, wenn man sich solche Erkrankungszahlen anschaut.
Inwiefern kommt es nicht nur den individuellen Mitarbeitenden, sondern auch dem gesamten Unternehmen zugute, wenn hinsichtlich Mental Health ein offener und unterstützender Umgang herrscht?
Nele: Da gibt es sehr spannende Zusammenhänge, die in der Gesundheitsforschung und auch in der Gesundheitsförderung in Unternehmen erst nach und nach Berücksichtigung finden. Studien zeigen zum Beispiel, dass die Entstigmatisierung und Enttabuisierung psychischer Belastungen und Erkrankungen die Basis dafür legen, dass Präventionsangebote im Unternehmen überhaupt wahrgenommen werden. Es gibt ja viele Unternehmen, die auf individueller Ebene etwas für Mental Health im Unternehmen tun – Stichwort Meditation und psychosoziale Beratung. Aber all diese Bemühungen bleiben meistens wenig fruchtbar, wenn nicht gleichzeitig daran gearbeitet wird, dass Mental Health als Thema normalisiert wird und Betroffene von psychischen Belastungen keine Angst haben müssen, sich durch das Wahrnehmen von Angeboten als »schwach« oder »weniger leistungsfähig« zu outen. Letztlich lässt sich eine offene Kultur im Hinblick auf Mental Health auch monetär verargumentieren: Je umfassender psychische Gesundheit im Unternehmen gedacht und gefördert wird, und das schließt die Unternehmenskultur ein, desto höher fällt der Return of Invest aus, weil Krankheitstage, Präsentismus (Anm. d. Red.: Auch krank zur Arbeit gehen, statt sich zu erholen) und (innere) Kündigung abnehmen. Man spart als Unternehmen am Ende also eine Menge Geld.
Nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im privaten Umfeld stoßen psychisch kranke Menschen oftmals auf Unverständnis und Stigmatisierung. Mit euren »MOODSUITS« macht ihr die körperlichen Symptome psychischer Erkrankungen für jede*n spürbar und wollt so mehr gegenseitiges Verständnis fördern. Wie funktioniert so ein »MOODSUIT« konkret?
Nele: Die MOODSUITS haben wir designed und gebaut, weil wir eine Brücke zwischen Betroffenen von Depressionen, Burnout und Angststörungen und ihrem Umfeld schlagen wollten. Wir haben Betroffene gefragt: »Wie fühlt es sich körperlich an, wenn es dir psychisch nicht gut geht?« Die Antworten haben wir geclustert und die häufigsten dann in vier zentrale Designobjekte überführt. Zum Beispiel in eine Art Helm, den man sich auf den Kopf setzt und durch den man die Welt wie durch Nebel sieht. Damit lässt sich – zumindest rudimentär – nachvollziehen, wie die psychosomatischen Symptome unsere Wahrnehmung verändern und auch zu ganz realen Einschränkungen im Alltag führen. Wir wollten damit auch zeigen, dass psychische Belastungen und Erkrankungen eben nicht nur etwa sind, was »im Kopf« stattfindet. Sie betreffen auch den Körper und schränken uns physisch ein. Nicht umsonst klagen etwa Depressionspatient*innen häufig auch über Rückenschmerzen und Rückenschmerzen können ein Indiz für psychische Belastung sein.
Ein Firmenevent wie z.B. einen »Mental Health Day« zu organisieren, mag ja ein guter erster Schritt sein - aber um eine nachhaltige Veränderung zu bewirken, müssen Führungskräfte eine entsprechende Unternehmenskultur gestalten und konstant Unterstützung anbieten. Könnt ihr Beispiele für passende Maßnahmen nennen?
Nele: Führungskräfte spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Arbeit und Arbeitsplätze mental gesund zu gestalten. Wir sagen immer, dass sie die »Kulturgestalter*innen« im Unternehmen sind. Um etwas an der Unternehmenskultur zu ändern und positiv darauf einzuwirken, ist es häufig erst einmal wichtig, mit gängigen Vorurteilen gegenüber psychischen Erkrankungen und auch gegenüber Betroffenen aufzuräumen und Führungskräften ein realistisches Bild solcher Beanspruchungen zu vermitteln. Mit diesem Wissen begegnen Team Leads und Vorgesetzte ihren Teams schon anders und können entsprechend auch konstruktiver reagieren, wenn es im Team zu Belastungen kommt. Ein weiterer Punkt ist die Kommunikation bei Belastungen, also wie spreche ich als Führungskraft mit belasteten Mitarbeiter*innen – auch dafür bieten wir Trainings an.
Und es geht letztlich auch immer darum, mental gesundes Verhalten vorzuleben, also als Role Model zu fungieren. Wenn ich als Mitarbeiter*in verbal vermittelt bekomme, dass es ok ist, abzuschalten und nicht mehr erreichbar zu sein, um 22.30 Uhr aber noch eine Mail von meinem Team Lead bekomme, dann ist das kein psychologisch sicherer Ort für mich, um gesundes Verhalten wirklich zu leben.
Welche weiteren Angebote habt ihr für Organisationen und Teams auf Lager, um sie dabei zu unterstützen?
Nele: Auf organisationaler Ebene bieten wir Workshops und Trainings an, die über Mental Health Themen aufklären und eine breite Zielgruppe sensibilisieren – beispielsweise »Lunch & Learns« zum Thema digitaler Stress oder den Frühsymptomen psychischer Erkrankungen. Wir beraten gesundheitsbezogene Arbeitsgruppen und Employee Resource Groups, die das Wissen und die Handlungsbereitschaft unter Mitarbeiter*innen fördern wollen. Teams unterstützen wir vor allem in kommunikations- und konfliktbezogenen Fragestellungen, also beispielsweise darin, digitale Medien gesundheitsförderlicher zu nutzen oder auch Belastungen bei Kolleg*innen besser zu erkennen und konstruktiv zu reagieren. Oft geht es auch darum, wie man eine eventuelle Überbelastung im Team an die Führungskraft kommuniziert oder den Workload anders verteilt, da beraten wir dann individuell.
Die Dynamik, Unsicherheit und Vernetzung von Arbeit und Privatem, die »New Work« mit sich bringt, können - wie anfangs erwähnt - negative Stressfaktoren sein, bergen beim richtigen Umgang aber auch viel Potenzial. Wie können Unternehmen z.B. digitale Tools so einsetzen, dass es zum Wohlbefinden der Mitarbeitenden beiträgt?
Nele: Auch, wenn wir glauben, dass wir ganz von alleine mit ihnen umgehen können und es »irgendwie schon von selbst richtig machen« – digitale Tools zwingen uns durch ihre Entgrenztheit und Schnelligkeit dazu, klare Regeln für ihren Umgang aufzustellen. Das heißt nicht, dass wir dieses Regelwerk, einmal gesetzt, niemals neu justieren können – aber Unternehmen sollten eine gesundheitsförderliche Policy für die Nutzung von digitalen Medien haben.
Wenn Mitarbeiter*innen ein neues Tool an die Hand gegeben wird, geht es zumeist ja erstmal nur darum, welche technischen Features und Finessen es bietet und wie man diese beherrscht. Es ist aber ebenso wichtig, die gesundheitlichen Fallstricke zu kennen, die ein bestimmtes Tool mit sich bringt und Handlungskompetenzen im Umgang mit dem Kanal oder Medium zu entwickeln. Allein innerhalb von Teams bestehen ja manchmal eklatante Unstimmigkeiten darüber, wann man beispielsweise Antwort auf eine Email erwartet. Diese Dinge im Team und – wichtig – auch mit den direkten Vorgesetzten festzulegen und bestenfalls auch in einer Art »AGB« festzuschreiben, ist wichtig. Dabei müssen individuelle Präferenzen und Wünsche mit den Interessen der Organisation ausgehandelt werden. Wir stellen aber immer wieder fest, dass man manchmal weit früher ansetzen muss: Vielen ist gar nicht bewusst, wie digitale Medien auf unser psychisches Wohlbefinden einwirken, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Dass beispielsweise nur marginale Arbeitsunterbrechungen durch digitale Kommunikation schon starke Stressreaktionen im Körper auslösen können und verhindern, dass man tiefe Konzentrationsphasen erreicht. Es geht also auch hier erstmal darum, ein Bewusstsein zu schaffen und dies organisationsübergreifend zu implementieren.
Was ist die Geschichte hinter der Gründung von SHITSHOW? Welche Mission treibt euch an?
Nele: Wir haben SHITSHOW gegründet, weil wir selbst erlebt haben, dass in Unternehmen und Organisationen häufig noch kein Bewusstsein für die Wichtigkeit mentaler Gesundheit herrscht – und die Arbeit häufig so gestaltet ist, dass sie mentale Ressourcen eher verbrennt als aufbaut. Wir haben die anhaltende Stigmatisierung psychischer Belastungen und Erkrankungen und das mangelnde Wissen darüber, wie man psychische Gesundheit in der Organisation stärken kann, gesehen und dachten: Das geht doch besser! Mit SHITSHOW befähigen und unterstützen wir Unternehmen, mental gesunde Arbeitsbedingungen und -kulturen zu entwickeln. Und für das Thema als solches begeistern – es ist nämlich nicht nur ein Problem-, sondern auch ein Chancenthema.
Was waren die größten Herausforderungen beim Aufbau eures Unternehmens und wie seid ihr diesen begegnet?
Nele: Grundsätzlich war es eine Herausforderung, ohne Startkapital und Investor*innen im Rücken zu gründen und relativ früh schon alles auf eine Karte zu setzen – wir wollten aber von Vornherein organisch wachsen und uns Zeit lassen, auf die Bedürfnisse unserer Kund*innen zu reagieren. Wir hatten so gesehen bei unserer Gründung kein Vorbild, sondern haben uns einem bis dato stigmatisierten Thema sehr direkt und unverblümt angenommen. Unser Name folgt diesem Ansatz ja auch, der hat bei manchen Zielgruppen auch teilweise Stirnrunzeln geerntet. Bis jetzt haben sich unser Mut und der Wille, unserem Ansatz treu zu bleiben, aber ausgezahlt.
Was war bislang euer größter Erfolg?
Nele: Da fallen mir vor allem die von außen betrachtet vielleicht erstmal »klein« erscheinenden Erfolge ein, die wir in unserer täglichen Arbeit sehen. Wenn ein Vortrag gut angekommen ist und Veränderungen in der Organisation anstoßen konnte, wenn es schöne Begegnungen in einem Workshop gab, wenn sich Betroffene von psychischen Belastungen gesehen und akzeptiert fühlen – das sind die Erfolge, die wirklich hängen bleiben.
Du möchtest mehr erfahren? Hier geht es lang zur Website von SHITSHOW.
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