Sich selbstständig machen mit Schwerbehinderung - geht das?
»Nach wie vor ist es leider so, dass die Themen Schwerbehinderung und Selbstständigkeit überhaupt nicht zusammen gedacht werden«, sagt Manfred Radermacher, Projektleiter von Enterability, einer Gründungsberatung für schwerbehinderte Menschen. Ganz im Gegenteil: Vielen gründungsinteressierten Schwerbehinderten wird geradezu davon abgeraten, sich selbstständig zu machen. »Der zentrale und klassische Vorbehalt ist, dass gedacht wird, Menschen mit Schwerbehinderungen seien in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.« Gerade in der Anfangszeit einer Neugründung muss man eine extrem hohe Leistung bringen. Dies wird Menschen mit einer Schwerbehinderung schlichtweg nicht zugetraut: »Die Leute denken, Menschen mit Schwerbehinderungen seien dafür nicht geeignet«, so Radermacher.
Ein weiterer Aspekt sei das klassische Fürsorge-Denken: »Viele sagen auch, Menschen mit Schwerbehinderungen trügen ein doppeltes Risiko, da zu dem normalen Unternehmerrisiko auch noch das gesundheitliche Risiko dazu komme. Daher wird diesen Personen oft geraten, sich einen sozialversicherungspflichtigen Job zu suchen, damit sie abgesichert sind. Da wird oft über die Köpfe der Schwerbehinderten hinweg entschieden.«
Eine weitere Rolle spielt laut Radermacher auch das Mindset der Gesellschaft inklusive der Menschen mit Schwerbehinderungen selbst. »Die wachsen in einer Realität auf, die kein Inklusionsparadies ist. Denen wird ihr ganzes Leben erzählt, dass die Selbstständigkeit eigentlich nicht für sie geeignet ist. Also viele trauen sich das auch selbst nicht zu, da ihnen immer vermittelt wurde: Schwerbehinderung und Selbstständigkeit - das funktioniert nicht.«
Dabei ist eine Selbstständigkeit gerade für Menschen mit Schwerbehinderungen eine enorm wichtige Chance, überhaupt am Arbeitsleben teilzuhaben. »Neunzig Prozent unserer Klient:innen nennen als zentrales Motiv für ihren Wunsch, sich selbstständig zu machen, dass sie auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht die Bedingungen finden, die sie individuell und persönlich brauchen. Als ihr eigener Chef schaffen sie sich diese Bedingungen, um dann doch arbeiten zu können«, so Radermacher.
In den Unterstützungssystemen wie Integrationsämtern oder Gründungsbegleitungen müsse demnach ein Bewusstseinswandel stattfinden. Gerade diesen Institutionen müsse deutlich gemacht werden, was für eine wichtige Alternative die Selbstständigkeit für viele Menschen mit Schwerbehinderungen darstellt.
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Welche Fördermöglichkeiten gibt es?
Selbstverständlich kommen die »normalen« Förderungen in Betracht, auf die grundsätzlich alle Einzelunternehmer:innen Anspruch haben: Der Gründungszuschuss von der Arbeitsagentur (ALG1-Empfänger:innen) und das Einstiegsgeld, für Menschen, die beim Jobcenter gemeldet sind (ALG2-Empfänger:innen). »Das sind die klassischen Förderinstrumente, die helfen, den Lebensunterhalt in der Startphase einer Selbstständigkeit zu bestreiten«, so Radermacher.
Darüber hinaus existieren drei spezielle Förderinstrumente, welche ausschließlich von Menschen mit Schwerbehinderung zusätzlich zu den oben genannten Möglichkeiten beantragt werden können:
Arbeitsassistenz
Wenn eine Person aufgrund der Schwerbehinderung bestimmte assistierende Tätigkeiten nicht selbst ausführen kann, gibt es die Möglichkeit, dass eine bezahlte Assistenzkraft diese Tätigkeiten ausführt und die Kosten dafür von der zuständigen Stelle übernommen werden. »Wichtig ist, dass es sich wirklich nur um assistierende Aufgaben handelt«, betont Radermacher. »Wir haben zum Beispiel die erste blinde Strafverteidigerin in Deutschland bei der Fördermittelbeantragung begleitet. Sie hat jetzt auch eine Arbeitsassistenz, die ihr dabei hilft, Dokumente zu lesen, die sie nicht lesen kann, und mit ihr ins Gericht geht. Oder wir hatten auch mal einen Fotografen, der irgendwann sein Equipment nicht mehr tragen konnte und der dann eine Arbeitsassistenz dafür bekam. Aber das Fotografieren und das Licht setzen und so weiter, das macht er alles natürlich weiter selbst.«
Förderungen für behinderungsbedingte Investitionen
Diese Art der Förderung dient dazu, durch gezielte Investitionen bestimmte Nachteile auszugleichen, die durch die Behinderung entstehen. Das kann zum Beispiel ein besonders großer Bildschirm sein für Menschen mit einer Sehbehinderung oder spezielle Büromöbel, wie z.B. ein spezieller Schreibtisch.
Darlehen
Menschen mit Schwerbehinderungen, die sich selbstständig machen, können darüber hinaus durch besondere Darlehen gefördert werden. Die Höhe ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. In Berlin beträgt sie ca. 15.000 Euro.
Wie erhält man diese Förderungen?
»Das Komplizierte an all diesen Förderungen ist, dass es von der Biografie jeder einzelnen Person abhängt, welcher Träger zuständig ist und die Förderungen leistet«, sagt Radermacher. Für Schwerbehinderte, welche bereits mindestens 15 Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben, ist z.B. die Rentenversicherung zuständig. In anderen Fällen wiederum die Arbeitsagentur oder das Integrationsamt (in manchen Bundesländern auch Inklusionsamt genannt). Zusätzlich unterscheidet sich das Verfahren der Beantragung nicht nur je nach Fördermittelgeber, sondern auch nach Bundesland. »Es gibt leider keine bundesweite Beratungsstelle«, so Radermacher. »Meine Empfehlung wäre, sich an das Integrationsamt bzw. Inklusionsamt zu wenden, die schicken einen dann möglicherweise weiter.«
Laut Radermacher sind die behinderungsspezifischen Förderungen in den meisten Fällen jedoch gar nicht ausschlaggebend: »Unter 20 Prozent unserer insgesamt mittlerweile ungefähr 530 Gründer:innen, die wir begleitet haben und begleiten, beantragen diese behindertenspezifischen Förderungen, weil die meisten das einfach nicht brauchen. Eine Arbeitsassistenz zum Beispiel, braucht nicht jede:r, sondern wirklich nur 15 Prozent unserer Gründer:innen.« Außerdem erhalten einige die finanziellen Mittel auch von anderen Stellen - bei einer guten Geschäftsidee, so Radermacher, gibt es auch andere Möglichkeiten, einen Kredit zu bekommen. Auch die behinderungsspezifischen Investitionen werden nicht immer benötigt. »Die meisten Behinderungen sind ja sowieso unsichtbar. Häufig sind das Menschen, die organische oder psychische Erkrankungen haben, die Schmerzpatient:innen sind, und da gibt es keine Investitionen, die das ausgleichen könnten.«
Die klassischen, arbeitsmarktpolitischen Förderungen hingegen (zuständig: Arbeitsagentur oder Jobcenter), welche allen angehenden Selbstständigen zustehen, werden von nahezu allen Klient:innen bei Enterability beantragt.
Die Behinderung muss von Anfang an mitgedacht werden
Enterability unterstützt jedoch nicht nur bei der Beantragung der entsprechenden Fördermittel. Vielmehr geht es um eine Gründungsberatung, welche die Behinderung und deren Auswirkung auf die Selbstständigkeit von Anfang an mit einbezieht. »Was nicht funktioniert, ist, eine klassische Gründungsberatung zu machen und dann noch ein, zwei Tage über die behinderungsspezifischen Fördermöglichkeiten zu sprechen«, betont Radermacher. Die Behinderung müsse in den ganzen Planungsprozess mit einbezogen werden. Eine Schwerbehinderung kann beispielsweise Auswirkungen darauf haben, wie viele Stunden täglich überhaupt gearbeitet werden können, was sich wiederum auf den Stundensatz auswirkt, den man ansetzen muss, um von der Arbeit leben zu können. Auch die Außenwahrnehmung bestimmter Behinderungen hat einen Einfluss auf potenzielle Klient:innen. »Manche behaupten, ihre Behinderung spiele bei der Selbstständigkeit überhaupt keine Rolle«, sagt Radermacher, »doch das stimmt einfach nicht. Die Behinderung wirkt sich immer irgendwie auf die Selbstständigkeit aus. Manchmal vielleicht nicht auf die direkte Ausübung der Tätigkeit, aber sehr wohl auf die Gründungsplanung, also darauf, wie die Selbstständigkeit gestaltet werden muss.«
Daher seien behindertenspezifische Gründungsberatungen so wichtig. »Denn wenn man nicht das Wissen um die Einschränkung, die Bedeutung und auch die Reaktion der Umwelt darauf, in den gesamten Planungsprozess mit einbezieht, dann bastelt man eine Geschäftsidee und Prozesse, die letztendlich der Person nicht entsprechen, und das ergibt ja keinen Sinn.«
Laut Radermacher müsste es deshalb in der ganzen Bundesrepublik Angebote wie Enterability geben. »Viele unserer Klient:innen sagen selbst, dass sie es ohne unsere Beratung nicht geschafft hätten.« Da das Projekt aus der Ausgleichsabgabe finanziert ist, darf Enterability ausschließlich Menschen mit Wohnsitz in Berlin beraten. Ähnliche Projekte stellen beispielsweise Foundit für NRW und Besser für Bayern und Baden-Würtemberg dar.
Die wichtigste Voraussetzung: Eigeninitiative
Natürlich stellt eine Selbstständigkeit nicht für alle Schwerbehinderten die ideale Lösung dar. Laut Radermacher betrifft das nur eine Teilgruppe: »Die, die bei uns landen, bringen alle den Wunsch und die Energie mit, selbst ihre Situation zu verbessern und ihr Arbeitsschicksal selbst in die Hand zu nehmen und dafür auch aktiv zu werden. Viele verfügen aufgrund ihrer behinderungsbedingten Biografie auch über besonders viel Geduld, Durchhaltevermögen und Durchsetzungskraft.«
Individuell ist es sehr unterschiedlich, ob die Behinderung auch einen positiven Beitrag zum Gründungsgeschehen leistet. »Es gibt natürlich Menschen, die aufgrund ihrer behinderungsbedingten Biografie besondere Erfahrungen gemacht haben und spezielle Kompetenzen erworben haben, die sie dann auch im Kontext ihrer Gründung einsetzen.«
Über Enterability und Manfred Radermacher:
Enterability, ein Projekt des gemeinnützigen Unternehmens Social Impact, hilft Menschen mit Schwerbehinderung, sich beruflich selbstständig zu machen und unterstützt schwerbehinderte Selbstständige dabei, nachhaltig am Markt zu bestehen. Das Angebot richtet sich an Menschen mit einem Behinderungsgrad von 50 Prozent und Schwerbehindertenausweis in Berlin.
Manfred Radermacher ist Projektleiter von Enterability und hat das Projekt von Beginn an mit aufgebaut. »Es hat sich herausgestellt, dass es für mich unglaublich lehrreich und persönlichkeitsbildend ist, mit dieser Zielgruppe zu arbeiten. Mir begegnen immer wieder Menschen, die eine schwierige Erwerbsbiografie, eine schwierige Behinderungsbiografie hinter sich haben und die trotz allem den Mut nicht verlieren, die aktiv sind. Ich profitiere sehr von diesen Begegnungen.«