Die MUT-TOUR ist eine Initiative für Menschen mit Depressionen. Erzähl uns doch kurz, was sich genau dahinter verbirgt.
Annika Schulz: Bei der MUT-TOUR machen depressionserfahrene und -unerfahrene Menschen seit 2012 gemeinsam Sport und Öffentlichkeitsarbeit. Sie setzen sich mit ihren persönlichen Geschichten für mehr Wissen und Mut im Umgang mit Depressionen ein und zeigen Perspektiven im Umgang mit der Erkrankung auf. In Sechserteams sind sie jeden Sommer auf Tandems oder zu Fuß unterwegs und treffen Journalist*innen in ganz Deutschland. Dabei erleben sie Gemeinschaft, Natur und haben dazu auch noch eine Menge Spaß.
Bislang haben rund 260 depressionserfahrene und -unerfahrene Menschen über 34.000 Kilometer zurückgelegt und mehr als 2.800 ermutigende Zeitungsartikel sowie hunderte Online-, Radio- und TV-Veröffentlichungen zum Projekt und seinem Anliegen auf den Weg gebracht. Auch in diesem Sommer sind wir wieder ab dem 20. Juni bis zum 30. August unterwegs.
Die nächste MUT-TOUR findet wieder ab dem 20. Juni 2020 statt. Wer kann dort alles mitmachen? Gibt es bestimmte Teilnahmevoraussetzungen oder Regeln, die beachtet werden müssen?
Annika: Wer im Juni, Juli oder August 2020 sieben Tage am Stück Tandem fahren und sich für mehr Offenheit im Umgang mit Depression einsetzen möchte, für den- oder diejenige könnte die Teilnahme an der MUT-TOUR interessant sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob man selbst Erfahrungen mit der Erkrankung gemacht hat. Hauptsache man hat Lust auf Outdoor- und Gruppenerlebnisse im Sechser-Team und tägliche Öffentlichkeitsarbeit. Sportler*in muss man nicht sein, um an der Tour teilzunehmen, Tandems und Outdoor-Ausrüstung wird vom Projekt gestellt.
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Alle Interessierten melden sich bei uns über unser Kontaktformular auf unserer Website.
Im zweiten Schritt gibt es ein erstes telefonisches Gespräch, unser sogenanntes Briefing. Bei den anschließenden MIT-MACH-Wochenenden in der Nähe von Kassel gibt es vom 17. bis 19. April, 24. bis 26. April oder vom 15. bis 17. Mai 2020 die Möglichkeit zum ausführlichen gegenseitigen Kennenlernen. Wenn alles passt, erfolgt das Angebot eines Etappenplatzes.
Wie kann ich mir den Ablauf so einer MUT-TOUR vorstellen? Gibt es z.B. auch die Möglichkeit nur Etappen mitzufahren?
Annika: Für wen eine sieben-tägige Etappenteilnahme nichts ist, der hat die Möglichkeit, im Rahmen unserer bundesweit stattfindenden Aktionen für einige Stunden aktiv zu werden: Jedes Jahr freuen wir uns über Mitradler, die unsere Teams im Rahmen unserer rund 25 öffentlichen Mitfahr-Aktionen begleiten. Knapp die Hälfte der Aktionen planen wir mit unseren Partnerorganisationen fest vor. In bis zu 15 anderen Orten entlang der Route möchten wir allen Interessierten die Möglichkeit geben, einen Mitfahr-Wunsch an uns heranzutragen. Hier können sich Gruppen mit mindestens 5 Personen bei uns melden, mit denen wir eine individuelle Mitfahr-Aktion planen. Informationen dazu gibt es auf unserer Homepage.
Welche Auswirkungen haben diese Touren auf die Teilnehmenden? Habt ihr vielleicht ein paar nette Anekdoten parat?
Annika: Unsere Teilnehmenden berichten uns immer wieder, dass die tägliche Bewegung, die unterschiedlichen Eindrücke unterwegs und die Gespräche in der Gruppe sowie mit interessierten Bürger*innen aktivierend wirken. Dabei wird besonders betont, dass die Erfahrung, fremde Menschen derart offen, interessiert und hilfsbereit zu erleben, Mut macht, an dem eigenen offenen Umgang festzuhalten. Das interne Gruppenerlebnis wiederum erlaubt, mit Gleichgesinnten zusammen zu kommen und sich auf Augenhöhe über eigene Erfahrungen austauschen zu können. Das Besondere dabei ist auch die Diversität der Gruppe. So trifft man auf Menschen, mit denen man im Alltag nicht unbedingt zusammentreffen würde - und alt lernt von jung oder Angehörige erfahren von Betroffenen und andersrum. Die Gruppenerfahrung ist also in vielerlei Hinsicht ein Mehrwert für den eigenen Erfahrungshorizont.
Hinzu kommt, dass sich die Tour auch auf den Selbstwert auswirkt. Es ist schon ein kleines Abenteuer, aus dem gewohnten Alltag auszubrechen und mit vorher unbekannten Menschen plötzlich 7 Tage im Team fern des eigenen Wohnortes zu radeln und dabei täglich Interviews zu geben - das ist für viele eine neuartige Erfahrung und eine Herausforderung, auf die man nach gemeisterter Tour stolz sein darf.
Auch die Natur hat seine positiven Auswirkungen. Jeden Tag suchen wir uns auf’s Neue eine Möglichkeit, wo wir unsere Zelte aufschlagen können. Manchmal mitten in der Natur, wo die Gruppe am Abend am Feuer sitzt und gemeinsam Glühwürmchen beobachtet. Oder auch bei gastfreundlichen Anwohner*innen, die uns unsere Zelte in ihrem Garten aufschlagen lassen
© Sebastian Burger
Obwohl die Anzahl der an Depressionen erkrankten Menschen schon seit Jahren steigt, sind sie dennoch ein Thema, über das heutzutage immer noch nicht so offen gesprochen wird, wie es vielleicht nötig wäre. Warum sind Depressionen oft noch so ein Tabuthema?
Annika: Einige, dem Thema abgeneigte Personen tun – aus welchen Gründen auch immer – Depression immer noch als etwas ab, was man mit »nur der richtigen Geisteshaltung« oder eben »weniger Faulheit« selber kontrollieren kann.
Dabei führen Depressionen häufig dazu, dass die erkrankte Person gar nichts mehr fühlt, sie wie gelähmt ist. Es geht meiner Meinung nach darum, sich klar zu machen, dass sich niemand eine Erkrankung – egal ob körperlich oder eben psychisch – aussucht. Vielleicht hier die Frage nach dem Perspektivwechsel: Würdest du mit der erkrankten Person tauschen wollen? Vermutlich lautet die Frage in den überwiegenden Fällen: nein.
Der – gefühlt – sehr viel größere Anteil am gegenwärtigen Stigma in unserer sehr leistungsorientierten Gesellschaft kommt meines Erachtens daher, dass akut und schwer erkrankte Menschen weniger oder keine Leistung erbringen können und man deshalb dazu tendiert, mit dem ganzen Thema Depression das Stigma »Mangel an Leistungsfähigkeit« zu verbinden.
Dieses Stigma hält sich wiederum, so meine Erfahrung, auch nicht selten in den Köpfen des Menschens selbst, der eigentlich erkennt, dass er nicht mehr kann. So passiert es, dass Menschen versuchen, das »gesunde Ich« mit einer Maske aufrecht zu erhalten und keine Hilfe annehmen wollen; aus Angst- und Schamgefühlen von der Norm abzuweichen.
Ebenso wird in Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen nicht selten die Schuldfrage gestellt. Das führt aus meiner Wahrnehmung her dazu, dass Angehörige nicht offen mit der Erkrankung eines Familienmitglieds umgehen können: Sie haben selbst Schuldgefühle und Angst vor den Reaktionen anderer. Infolgedessen wird die Erkrankung tabuisiert. Im Kontakt und Umgang mit den Erkrankten schwingt wiederum nicht selten Unsicherheit mit, die dazu führen kann, dass sich eine erkrankte Person stigmatisiert fühlt.
Was müsste sich eurer Meinung nach gesellschaftlich ändern, damit Depressionen nicht mehr so häufig auftreten und mehr, und vor allem offener, über solche Probleme gesprochen wird?
Annika: Aus meiner Sicht gibt es kleinere und größere Entwicklungsschritte, wobei ich insbesondere auf die kleineren Schritte eingehen möchte:
- ein offenes Miteinander erlernen
- Interesse an Mitmenschen und ihrer Individualität fördern
- Zuhören lernen
- eigene Schwierigkeiten akzeptieren lernen und realisieren, dass alle
Menschen jeden Tag Hürden nehmen müssen, wobei einige Hürden höher
sind als andere - und, ganz wichtig, persönliche Zufriedenheit erlangen
Schon Kinder und Jugendliche sollten offener mit ihren Gefühlen umgehen können und lernen, dass Gefühle ihre Berechtigung haben, egal in welche Richtung sie ausschlagen. Über intime Gefühlszustände zu sprechen, fällt einigen Menschen doch immer noch sehr schwer, dabei sind sie es doch, die uns nahbar und authentisch erscheinen lassen.
Größere Schritte beziehen sich auf die Gesellschaft als Ganzes; auf die Strukturen, die uns umgeben. Und aus meiner Sicht auch auf die Fragen: Was treibt uns an? Als Gesellschaft, als Individuum? Für wie viel Gemeinschaftsdenken ist Platz?
Wie ist die Idee für die MUT-TOUR entstanden und wer steckt dahinter?
Annika: Die MUT-TOUR wurde durch Sebastian Burger ins Leben gerufen. Vor der MUT-TOUR hat er bereits Erfahrungen in verschiedenen partizipativen Tandem-Projekten gesammelt. Die Idee zur MUT-TOUR kam ihm, als er mitbekommen hat, wie jemand in seinem Bekanntenkreis nicht offen mit der eigenen Erkrankung im Arbeitskontext umgehen konnte. Trägerverein ist die Deutsche DepressionsLiga e.V.
Welche Möglichkeiten gibt es, sich bei MUT-TOUR zu engagieren? Seid ihr zur Zeit vielleicht auf der Suche nach Helfer- oder Mitarbeiter*innen?
Annika: Allein bei unseren öffentlichen Mitfahr-Aktionen mitzufahren und dabei ein Zeichen für mehr Offenheit im Umgang zu setzen, ist bereits eine Form, wie Menschen uns unterstützen können. Je mehr Menschen bei uns mitfahren, desto mehr Aufmerksamkeit können wir auf das Thema lenken! Ansonsten sind wir immer dankbar über Vernetzungsangebote zu Medienschaffenden. Menschen, die uns in der Bewerbung unserer Aktionen unterstützen möchten, sind auch eingeladen, sich proaktiv bei uns zu melden - wir haben Info- und Werbematerial, das bundesweit verbreitet werden soll (z.B. das Aushängen von Plakaten an Hochschulen oder Aufklärungsbroschüren).
Über Annika Schulz:
© Johannes Ruppel
Annika war zwischen September 2015 und Dezember 2018 Mitarbeiterin in der Projektleitung. Seit Anfang Februar 2019 ist sie als Projektleiterin der MUT-TOUR in Elternzeitvertretung tätig. Dabei hält Annika in Vollzeit von Karlsruhe aus die Fäden aller Bereiche der MUT-TOUR zusammen und überblickt die Projektentwicklung. Sie hat einen Bachelor in Geographie und einen Master in Kulturmanagement.
Wer sich für eine Teilnahme an den MUT-Tours interessiert, wird sich freuen: Es gibt noch freie Etappenplätze für die diesjährige Tour. Alle Infos dazu findest du auf der Homepage der MUT-Tour.
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