Dieser Gastartikel wurde verfasst von Friederike Leibinger.
Warum psychologische Sicherheit?
Psychologische Sicherheit beschreibt die individuelle sowie die geteilte Wahrnehmung und Überzeugung in Teams, dass man nicht bestraft oder gedemütigt wird, wenn man Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehler äußert, und dass das Teamgefüge sicher genug ist, um zwischenmenschliche Risiken einzugehen (Edmonson, 1999).
In den letzten Jahren sind das Interesse und die mediale Aufmerksamkeit rund um das Thema stark angestiegen. Doch warum ist psychologische Sicherheit mittlerweile gefühlt in aller Munde?
Das hat meiner Erfahrung und Einschätzung zufolge folgende Gründe:
- Sicherheit ist eines unserer existenziellen menschlichen Grundbedürfnisse. Unsicherheit hat Ängste und Stress zur Folge. Um gut arbeiten und denken zu können, müssen wir uns sicher fühlen.
- Die Natur der Arbeit verändert sich grundlegend.
- Die Art und Weise, wie und mit wem wir arbeiten, wandelt sich rasant.
- Zunehmende geopolitische und innenpolitische Spannungen haben zunehmende Verunsicherungen und Ängste bei Mitarbeitenden zur Folge.
Die radikale Veränderungsgeschwindigkeit durch die zunehmende Digitalisierung fordert von uns zügige Anpassungs- und Problemlösungsfähigkeit, sowie die Entwicklung neuer Ideen.
Dafür müssen wir auf unser gesamtes menschliches, also unser kognitives, unser emotionales und unser psychologisches Potenzial zugreifen können. Das ermöglicht uns, antizipatorisch, komplex und kritisch denken zu können sowie mit Ambidextrien umzugehen, indem wir innere Spannungen aushalten.
Voraussetzung für all das ist die bewusste Förderung und Nutzung unserer menschlichen Neurodiversität, also unserer neurobiologischen Vielfalt.
Unsere Neurodiversität, sowie unsere deep-level Diversität in unseren Werten, Denkweisen, Charakterstärken und Wahrnehmungen ist die Grundlage für Vielfalt im Wahrnehmen, Denken und Fühlen.
Genau dafür braucht es psychologisch sichere Räume im Arbeitsumfeld, die es Mitarbeitenden ermöglichen, sie selbst zu sein, anstatt eine Rolle zu spielen oder eine Maske tragen zu müssen.
Psychologisch sichere Räume, die Selbstreflektion, persönliche Entwicklung und Wachstum ermöglichen und fördern, die unser Mensch sein anerkennen und zulassen.
Räume, in denen wir uns angstfrei fühlen, so dass wir frei, kreativ und innovativ denken können und uns mit unseren einzigartigen Gedanken einander anvertrauen.
Nur wenn wir es uns erlauben, im beruflichen Kontext auch unsere Verwundbarkeiten und Schattenaspekte zu zeigen, werden wir authentische Beziehungen aufbauen können und uns gegenseitig vertrauen können. Sonst verschwenden wir viel Energie damit, uns voreinander zu verstecken.
Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass psychologische Sicherheit bei jedem einzelnen Menschen beginnt und nicht nur "von oben" durch Führung kultiviert und gelebt werden kann. Jede: r muss sich im ersten Schritt in sich selbst sicher fühlen.
Wie erschaffen wir psychologische Sicherheit?
Zu einer Umgebung und Kultur, in der sich Menschen psychologisch sicher fühlen, trägt jede:r Mitarbeitende einen Anteil bei – unabhängig von Titel, Funktion oder Führungsspanne. Und zwar durch die Art und Weise, wie wir Menschen begegnen und mit Kolleg: innen in Beziehung treten. Haben wir ehrliches Interesse am Gegenüber mit seiner/ihrer Geschichte, oder geht es uns in der Beziehungsgestaltung hauptsächlich um Leistung und Gegenleistung?
So kann psychologische Sicherheit auf verschiedenen Ebenen gestärkt werden.
Auf individueller Ebene:
Psychologische Sicherheit erfordert Selbstexploration, Selbstkenntnis, Selbstreflexion und achtsames Zuhören. Wir müssen uns fragen, wen wir unbewusst ausschließen, unterdrücken oder diskriminieren.
»Kompetenzen wie Selbstkontakt, Selbstkenntnis, Selbstbewusstsein, Empathie und Metareflexion sind nicht das Sahnehäubchen auf agilen, neuen oder selbstorganisierten Führungsformen, sondern deren Fundament.« Breidenbach & Rollow, 2023
Unternehmen und Organisationen, die es Mitarbeitenden ermöglichen, ihren eigenen Innenraum tiefgehend begreifen und selbstwirksam führen zu lernen, werden sehr wahrscheinlich stark davon profitieren können.
Beispielsweise durch abnehmende (mentalen) Krankheitsraten und höhere Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Arbeitgeber.
Auf Teamebene:
Eine regelmäßig gelebte Peer-Feedback-Kultur, eine Kultur der gegenseitigen Wertschätzung und Anerkennung, eine achtsame Meetingkultur, eine wertschätzende Fehler- und Lernkultur sowie die Reflexion darüber, wie Macht und Privilegien in einer Gruppe verteilt sind, wirken auf Team Ebene sehr förderlich.
Zusammenarbeit erfordert regelmäßige Beziehungsarbeit. Wenn Unternehmen und Organisationen hierin Einsparungspotenzial sehen, wird sich das negativ auf die Teamleistung auswirken.
Auf Führungs- und Organisationsebene:
Eine Kultur des Lernens und des Scheiterns, in der Fehler als Chancen und Lerngelegenheiten genutzt werden sowie Reflexions- und Begegnungsräume, tragen zu einem als psychologisch sicher wahrgenommenen Klima bei.
Zusätzlich tragen das Annehmen und das Zeigen, also das Vorleben, der eigenen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit einen großen Teil dazu bei, dass sich auch Mitarbeitende trauen, am Arbeitsplatz sie selbst zu sein.
Unternehmen und Organisationen, die bewusst in die Aufklärung und die Stärkung unserer Neurodiversität investieren sowie regelmäßige Stille- und Achtsamkeitsroutinen in ihrer Unternehmens-, Meeting- und Gesprächskultur einführen und pflegen, zahlen damit auch in ein psychologisch sicheres Arbeitsumfeld ein.
Fazit
Psychologische Sicherheit ist die Basis für Kreativität und Potenzialentfaltung.
Abschließend lässt sich festhalten, dass psychologische Sicherheit unerlässlich ist für die Freisetzung unserer neurodivergenten und deep-level Potenziale.
Spürbare psychologische Sicherheit ermöglicht es uns, in unser menschliches Potenzial hineinzuwachsen und kreative Risiken einzugehen, ohne Angst vor negativen Konsequenzen haben zu müssen.
Nur in einem als psychologisch sicher wahrgenommenen Umfeld können wir unser gesamtes menschliches Potenzial entfalten und einbringen und damit nachhaltig die Innovationsfähigkeit und den Erfolg eines Unternehmens oder einer Organisation beeinflussen.
Quellen:
“New Work needs Inner Work” (Joana Breidenbach & Bettina Rollow, 2019)
„Die entfaltete Organisation: Mit Inner Work die Zukunft gestalten“ (Joana Breidenbach & Bettina Rollow, 2022)
Edmondson, A. "Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams." Administrative Science Quarterly 44, no. 4 (December 1999): 350–383
https://www.hogrefe.com/de/thema/psychologische-sicherheit-im-unternehmen
https://innerdevelopmentgoals.org/
Über die Autorin
Friederike Leibinger ist Arbeits- und Organisationspsychologin mit Schwerpunkt auf Hochsensitivität und psychologischer Sicherheit. Zudem ist sie zertifizierter Business Coach für hochsensitive Mitarbeitende & Führungskräfte und Team Coach für psychologische Sicherheit. Gerne steht sie u.a. für Impulsvorträge zum Thema »Steckt in der Hochsensibilität (ungenutztes) Potenzial für die Business-Welt?« zur Verfügung. Mehr über Friederike Leibinger findest du auf ihrer Webseite.