Diskriminierendes Denken und Handeln im Recruiting verlernen
Stell dir vor, du sitzt an einem runden Tisch mit deinem Team. Ihr habt soeben Interviews für die offene Stelle geführt. Jetzt diskutiert ihr über die Kandidat:innen. Deine Vorgesetzte beginnt die Diskussion, indem sie ihre persönlichen Eindrücke schildert. Sie fängt mit der Kandidatin an, die ihr am besten gefällt und hebt deren Kompetenzen hervor. Die anderen im Team stimmen zu, ihre Wahrnehmungen decken sich größtenteils. Nach ein paar Minuten zeichnet sich ab, dass sie die Favoritin ist, obwohl ihr bisher kaum über die anderen Kandidat:innen gesprochen habt. Du guckst deine Notizen an und hältst kurz inne. Du hättest da eigentlich ein paar Sorgen zu vermerken - und außerdem gäbe es einige Beobachtungen zu einer anderen Person, die du gern teilen würdest. Nach kurzem Überlegen verwirfst du deine Gedanken aber wieder, denn sie sind wahrscheinlich eh nicht so wichtig. Oder?
Situationen wie diese sind fies. Es entsteht ein vermeintlicher Konsens, weil alle sich gegenseitig beeinflussen. Abweichende Urteile finden keinen Platz in der Diskussion. Und auch wenn alle am Tisch die Intention hatten, nach ihrem besten Wissen und Gewissen zu urteilen, schleicht sich genau so ein Verzerrungseffekt ein, der ein faires Urteil unterminiert.
In solchen Situationen werden individuelle Beobachtungen der Gruppenmeinung untergeordnet bzw. an sie angepasst. Ein solcher Group Think Bias kann besonders schwerwiegend sein, wenn es auch noch Hierarchiegefälle gibt und somit manche Einschätzungen als besonders richtig oder fundiert gelten. Andere, potentiell sehr bereichernde Beobachtungen schaffen es nie in die Diskussion oder werden übergangen.
Group Think ist einer von vielen Verzerrungseffekten, die bestens erforscht sind. Neben Group Think gibt es viele weitere kognitive Fehler, die unser Urteilsvermögen manipulieren. Einige sind auf die Art und Weise, wie unser Gehirn gestrickt ist, zurückzuführen. Andere sind eher ansozialisiert und wachsen aus gesellschaftlichen Strukturen und Gegebenheiten. Letztere sind oft deutlich schwieriger zu kontern, besonders weil wir sie oft gar nicht bemerken.
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Abkürzungen im Gehirn
Häufig sind wir, meist ohne es zu merken, von sexistischen, rassistischen oder klassistischen Narrativen beeinflusst; die Liste lässt sich weiterführen. Unser Gehirn arbeitet mit Abkürzungen, die uns helfen, schnell und effektiv Eindrücke zu verarbeiten. Diese Abkürzungen beruhen zum Teil auf individuellen Erfahrungen, aber auch auf gesellschaftlichen Regeln, kulturellen Normen und vermeintlichen Wahrheiten, auf denen unser Umfeld aufbaut. Sie sind erforderlich dafür, dass wir die Welt navigieren können und meistens total hilfreich. Gleichzeitig können diese Abkürzungen, eben weil sie auf den gesellschaftlichen Gegebenheiten aufbauen und sich auf diese berufen, zu problematischen und schädlichen Denkmustern führen.
Ein Beispiel für einen solchen, systemisch bedingten Verzerrungseffekt, ist der Gender-Bias. Wie der Name sagt, ist das eine geschlechtsspezifische, oft unbewusste, Voreingenommenheit. Eine Art angelernter, sexistischer Denkfehler. Geschlechtsspezifische Vorstellungen werden schon vor der Schule angelernt: Mädchen sind so, Jungs so. Wir wissen aus den Gender Studies, dass Filme, Werbung, Bücher, Musik oder andere Formen von medialer Einflussnahme nicht spurlos an uns vorbeigehen und wir wissen auch, dass sie geschlechtsspezifische Botschaften transportieren.
Klar, auch Geschlechterbilder, die unsere Eltern uns vorgelebt haben oder Familienwerte, sowie kulturelle Normen spielen hier eine Rolle, unsere Vorstellung von Gender ist ein Produkt all dieser Einflüsse. Auch wenn wir Sexismus als Ideologie ablehnen und binäre Vorstellung von Geschlecht eindimensional finden, sind wir nicht frei von diesem gesellschaftlichen Einwirken auf unser Gehirn, ganz egal, wie reflektiert wir sind.
Diskriminierender Bias im Recruiting
Im Kontext von Recuriting stellt das eine große Herausforderung dar. Solche systematisch bedingten Verzerrungseffekte lassen sich nicht leicht aus der Welt zaubern, schließlich beruhen sie meist auf jahrhundertelangen Unterdrückungsgeschichten. Studien zeigen auf, dass neben Gender auch weitere soziale Faktoren zu einer ungleichen Beurteilung führen, wie zum Beispiel die ethnische oder soziale Herkunft, das Alter oder ob eine Person eine Behinderung hat. So konnten zahlreiche Forscher:innen eine schlechtere Beurteilung von Lebensläufen mit »fremd« klingendem Namen aufweisen, als von jenen mit vermeintlich deutschen Namen.
Wir lassen uns von allen möglichen sichtbaren Indizien leiten, auf Basis derer wir Annahmen über Menschen und deren Fähigkeiten haben, meistens ohne dass wir das überhaupt merken oder wollen. Und: Unser Gehirn kombiniert Annahmen auf Basis von verschiedenen Faktoren gleichzeitig, weshalb schwarze Frauen beispielsweise anders beurteilt werden als weiße Frauen.
Recruiter:innen brauchen einen langen Atem, um gegen diese Programmierungen anzukämpfen. Das Entlernen erfordert Arbeit und für diese müssen Räume und Ressourcen bereitgestellt werden. Nur so kann eine Reflexion stattfinden und angelernte Denkmuster kritisch hinterfragt werden.
Wie lässt sich stereotype Beurteilung verlernen?
Das Sichtbarmachen von den unsichtbaren, weil so normalisierten, Vorstellungen, die wir entlang von Geschlecht und anderen sozialen Kategorien haben, ist der erste Schritt. Denn nicht jeder voreingenommene Gedanke muss auch zu einer diskriminierenden Beurteilung führen.
Es ist die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, sich zu sensibilisieren und Tools zu lernen, mit denen es leichter fällt, andere auf stereotypes Denken hinzuweisen. Das ist äußerst unangenehm. Es hilft, wenn alle die gleiche Sprache an die Hand bekommen und auf einen gemeinsamen Wissensschatz zurückgreifen können. Trainings und Schulungen können hier helfen, den Rahmen zu setzen und es zu normalisieren, Bias anzusprechen. Fragen, die ihr euch gegenseitig stellen könntet, sind z. B.:
- Inwiefern hat das Alter/Geschlecht/Aussehen/Körperbild/Hautfarbe der Person deine Wahrnehmung beeinflusst?
- Hättest du diese Frage auch gestellt, wenn er/sie/they 15 Jahre jünger/älter oder ein Mann/eine Frau/divers wäre oder nicht queer aussehen/… würde?
- Warum kommst du zu dieser Interpretation?
- Was hast du beobachtet, dass dich zu diesem Urteil führt?
In unseren Unconscious Bias Workshops klären wir darüber auf, welche Bias-Arten es gibt und liefern Beispiele für deren Manifestation im Recruiting. Auf der anderen Seite halten wir den Raum für Austausch. Austausch resultiert in einem Perspektivwechsel und dieser ist enorm wichtig, denn eine Ressource, auf die ihr im Team zurückgreifen könnt, seid ihr selbst: Ihr vereint unterschiedliche Perspektiven und könnt daher auch unterschiedliche Dinge sehen oder nicht sehen.
Obwohl es Überschneidungen gibt, wurdet ihr unterschiedlich sozialisiert - das, was für den einen normal ist, ist für die andere unüblich. Nutzt das, um nuancierte Diskussionen zu haben und euch gegenseitig auf stereotypes Denken aufmerksam zu machen.
Blinde Flecken in der Recruiting Journey identifizieren
Wer keine Ressourcen für eine externe Begleitung hat, kann auch in Eigenregie Workshops umsetzen. Ihr könnt zum Beispiel im Team darüber sprechen, welche Glaubenssätze euch in eurer Kindheit zu verschiedenen Gruppen vermittelt wurden. Was habt ihr über Frauen gelernt? Welche Bilder wurden euch von Nicht-Akademiker:innen vermittelt? Welche Gruppen waren in eurem Aufwachsen unsichtbar?
Weniger systemisch bedingte Bias Arten, wie der eingangs beschriebene Gruppe Think Bias, lassen sich einfacher aus der Welt schaffen. Hier lohnt es sich, Prozesse kritisch unter die Lupe zu nehmen und sich einen externen Blick einzuholen. Aber auch mit wenig Budget und ohne fremde Hilfe könnt ihr gerechtere Prozesse etablieren. Informiert euch über die unterschiedlichen Verzerrungseffekte, allen voran Group Think, Confirmation Bias, den Halo-Effekt und den Ähnlichkeits-Bias und identifiziert Schwachstellen in eurer Recruiting Journey.
So ist es zum Beispiel empfehlenswert, Beobachtung und Interpretation in Beurteilungssituationen streng zu trennen und die Auswertung nicht in der Gruppe vorzunehmen. Bei der Ausgestaltung des Prozesses könnt ihr kreativ werden. Vermeidet es, Notizen über Bewerber:innen im Prozess miteinander zu teilen, um euch nicht zu beeinflussen.
Anstatt in der großen Gruppe jede:n Kandidat:in durchzugehen, könnt ihr zum Beispiel Zweierteams bilden, die sich im Tandem auf eine Beurteilung pro Bewerber:in festlegen. Diese Beurteilungen werden dann in der großen Gruppe nebeneinander gelegt und gleichzeitig geteilt, sodass Differenzen sichtbar werden, nachdem das Urteil bereits gefällt wurde.
Ein solches Vorgehen löst Group Think Effekte nicht komplett auf, aber es reduziert sie. Klar: Es spielen noch viele weitere Aspekte eine Rolle, wie zum Beispiel die Konfliktfähigkeit im Team und wie harmoniebedürftig die einzelnen Beurteiler*´:innen sind. Und wahrscheinlich spielen auch in diese Situation Geschlecht, Alter, Herkunft und viele weitere Faktoren mit in die Beurteilung hinein, obwohl sie da nichts zu suchen haben.
Es lohnt sich, inne zu halten. Sich Zeit zu nehmen. Kritische Rückfragen zu stellen. Diskriminierendes Denken und Handeln im Recruiting zu verlernen ist leider kein To-Do, das sich schnell anhand einer Checkliste abarbeiten lässt. Vielmehr ist es eine kontinuierliche reflexive Praxis, die ein stetiges Maß an Eigenarbeit, Teamreflexion, kontinuierlicher Evaluation und Anpassung der Prozesse bedarf.
Über Rea Eldem
Rea Eldem ist Gründerin und Geschäftsführerin von IN-VISIBLE, einer Berliner Agentur für gendergerechte Arbeitskultur. Mit ihrem Team berät sie Unternehmen darin, strategische Ansätze für strukturelle Veränderungen hin zu mehr Diversität und weniger Diskriminierung zu entwickeln und umzusetzen. Rea wuchs in Deutschland, Japan und Hongkong auf und studierte Kulturwissenschaften am Bodensee und Gender Studies an der Universität Cambridge.