Was ist Neurodiversität?
Konzentrationsschwierigkeiten, Reizüberforderung und ein hohes Stresserleben - Jana Steuer kennt die Herausforderungen, vor welchen ihre Klient:innen stehen, nur zu gut. Sie ist selbst ADHSlerin und hat einen Beruf gewählt, in dem sie anderen neurodivergenten Menschen bei der Berufsorientierung und der Gestaltung ihres Arbeitslebens hilft.
Bei neurodivergenten Menschen werden die aus der Umwelt eintreffenden Reize im Gehirn anders verarbeitet als bei neurotypischen Menschen. Dies ist zum Beispiel bei AD(H)S (Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Störung), Autismus, dem Tourette-Syndrom sowie bei Dyskalkulie und Dyslexie der Fall. Während es sich bei den eben genannten Beispielen um medizinisch definierte Diagnosen handelt, ist »Neurodiversität« jedoch ein soziologischer Begriff, welcher aus der Behindertenbewegung stammt. Diesem Begriff liegt das Verständnis von neurologischer Vielfalt zugrunde: Es gibt ganz viele verschiedene neurologische Ausprägungen und ADHS oder Autismus beispielsweise werden als Bestandteil dieser Vielfalt und nicht als »Krankheit« betrachtet. Eine Krankheit oder eine Diagnose stellt die Frage nach einer Behandlungs- oder gar Heilmöglichkeit. Im Kontext der Neurodiversität hingegen wird danach gefragt, wie der Einfluss aus der Umwelt und das Individuum zusammenhängen und unter welchen Bedingungen sich eine Person gut entwickeln, gut arbeiten und gut lernen kann.
Gerade, weil neurodivergente Ausprägungen so lange als Krankheiten betrachtet wurden und teilweise immer noch werden, ist es umso wichtiger, die ganz besonderen Stärken hervorzuheben, die mit diesen Eigenschaften einhergehen. So verfügen sowohl ADHSler:innen als auch Autist:innen - anders als der in den Medien verbreitete Stereotyp - über eine ausgeprägte Empathie, Ehrlichkeit, Loyalität, Verlässlichkeit und einen starken Gerechtigkeitssinn. Sie machen sich viele Gedanken und spüren, wenn Gruppendynamiken nicht passen. Sie sind imstande, sehr schnell Wissen zu erwerben und aus dem Stegreif abzurufen. Außerdem arbeiten sie sehr engagiert und motiviert, mit hohem Qualitätsbewusstsein und großer Kreativität. Durch die andere Wahrnehmung der Außenwelt erarbeiten sie nicht selten ganz neue Ideen und Konzepte.
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Tipps für das Berufsleben
Bewerbungsgespräche:
Je nachdem, wie wohl du dich damit fühlst und wie inklusiv sich das Unternehmen darstellt, kannst du selbst entscheiden, ob du bei der Bewerbung deine eigene neurodivergente Ausprägung erwähnen möchtest. Du kannst offen damit umgehen - verpflichtend ist das aber nicht.
Falls du dich dazu entscheidest, transparent damit umzugehen, achte darauf, dass sich deine Bedürfnisse mit deinen ganz besonderen Stärken die Waage halten. Betone, mit welchen guten persönlichen Eigenschaften deine neurodivergente Ausprägung einhergeht.
Optimale Arbeitsbedingungen:
Wenn du neurodivergent bist, besteht der erste und wichtigste Schritt darin, dir selbst darüber bewusst zu werden, was deine individuellen Bedürfnisse sind. Unter welchen Bedingungen kannst du dich gut konzentrieren? Woran merkst du, dass du eine Pause brauchst? Was tut dir gut und was zieht dir Energie? Du könntest dazu zum Beispiel ein Achtsamkeitstagebuch nutzen und darin festhalten, wann du Stressmomente erlebst.
Im zweiten Schritt kannst du dir überlegen, welche Faktoren du ändern kannst und über welche Themen du mit deinen Kolleg:innen und Vorgesetzten sprechen kannst. Dies kann z.B. deinen Arbeitsort, die Arbeits- und Pausenzeiten, die Arbeitskleidung oder auch spezielle Hilfsmittel, wie z.B. Noise-Cancelling Kopfhörer, betreffen.
Auch eine Beratung, ein Coaching oder eine Therapie können dir dabei helfen, dich selbst und deine persönlichen Bedürfnisse besser kennenzulernen und diese gut zu kommunizieren.
Tipps für neurotypische Vorgesetzte und Kolleg:innen
Definierst du dich eher als neurotypisch und fragst dich, was du tun kannst, damit sich neurodivergente Menschen am Arbeitsplatz wohler fühlen? Dann mache dir zuallererst bewusst, dass es nicht »den einen« neurodivergenten Menschen gibt. Jede einzelne neurodivergente Person ist verschieden und hat ganz individuelle Bedürfnisse und Stärken.
Hier sind ein paar Beispiele positiver Einflussfaktoren, die der Expertin in der Praxis häufig begegnen und die sie aus ihrer persönlichen Erfahrung bestätigen kann:
- Klare und individuelle Absprachen
- Eine klare und wertschätzende Kommunikation, v.a. bzgl. der eigenen Rolle und der entsprechenden Erwartungen
- Eine feste Ansprechperson bei der Einarbeitung und die Möglichkeit, Fragen bei Bedarf auch mehrmals zu stellen
- Klar kommunizierte Strukturen (z.B. wie ist das Team organisiert? Wie wird kommuniziert, welche verschiedenen Kommunikationswege gibt es?)
- Ein ruhiger Arbeitsplatz
- Die Möglichkeit, dann eine Pause zu machen, wenn sie gebraucht wird - auch wenn das vielleicht an anderen Stellen ist, als beim Rest des Teams
Wie dir womöglich aufgefallen ist, sind das Aspekte, von denen alle, auch die eher neurotypischen Personen, im Team enorm profitieren können. Daher funktionieren neurodiverse Teams oft ganz besonders gut.
Generell ist es zu empfehlen, eine gewisse Grundachtsamkeit dafür zu entwickeln, was die einzelnen Mitglieder im Team brauchen. Du kannst dich fragen: Was beobachte ich bei den anderen? Was könnten Verbesserungen sein? Und dann Vorschläge machen. Die Verantwortung, die optimalen Arbeitsbedingungen für sich zu schaffen, sollte nicht komplett allein bei der neurodivergenten Person liegen - Alle freuen sich, wenn sie merken, dass ihr Wohlbefinden auch den anderen wichtig ist.
Das möchte Jana dir noch ans Herz legen:
Mache dir immer wieder bewusst, dass Menschen verschieden sind und die Welt ganz unterschiedlich wahrnehmen. Hinterfrage deine Annahmen und vermeide es, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und Personen zu bewerten oder zu beurteilen. Stelle lieber eine Frage, bevor du eine Annahme triffst.
Über Jana Steuer:
Jana ist staatl. anerkannte Ergotherapeutin und studierte Diplom Rehabilitationspädagogin. Nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums war Jana als Sonderpädagogin in zwei Kitas, als Lehrbeauftragte an der Humboldt Universität zu Berlin und als Sozialarbeiterin an Kreuzberger Schulen tätig. Zudem sammelte sie Erfahrung als Trainerin und Coach bei verschiedenen Trägern, wie zum Beispiel Diversicon - einem Anbieter von Berufsorientierungskursen und Beratungen für Menschen mit ADHS und/oder Autismus. Außerdem führt sie auch Fachveranstaltungen und Weiterbildungen zum Thema Neurodiversität durch.
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