Es ist schon fast ein wenig ungerecht: Vielen hochsensiblen Personen fällt es ganz besonders schwer, den richtigen Beruf zu finden. Gleichzeitig ist es jedoch ungeheuer wichtig, dass gerade diese Menschen ihre Berufung leben - nicht nur für sie selbst, sondern auch für die ganze Gesellschaft. Um dir bei der Berufs- oder Neuorientierung ein wenig unter die Arme zu greifen, haben wir die wichtigsten Aspekte gesammelt, welche du als hochsensible Person unbedingt in deine beruflichen Entscheidungen mit einbeziehen solltest.
Bist du hochsensibel?
Circa 20 Prozent aller Menschen sind hochsensibel. Hochsensible Personen (i. Folgenden: HSP). Sie nehmen Reize aus der Umwelt stärker wahr, da sie über ein empfindlicheres Nervensystem bzw. eine höhere Anzahl an Neurotransmittern verfügen. Aufgrund dieser verstärkten sensorischen, emotionalen und/oder kognitiven Wahrnehmung, sind sie schneller überstimuliert als die Mehrheit der Menschen. Viele HSP fühlen sich daher schnell durch laute Geräusche, grelle Lichter oder stressige Situationen überlastet. Gleichzeitig schenkt ihnen dieses Persönlichkeitsmerkmal oft eine besondere künstlerische Neigung, eine hohe Empathie oder eine starke Intuition. Bist du unsicher, ob Du hochsensibel bist? Hier kannst du einen Test machen.
Wenn Du hochsensibel und in der Berufs- bzw. Neuorientierungsphase bist, empfehlen wir dir, folgende Aspekte bei deiner Entscheidung zu beachten:
Du suchst nach einem Job mit Sinn?
Du suchst nach einem Job mit Sinn?
Sinnhaftigkeit
Wenn du hochsensibel bist, willst du höchstwahrscheinlich nicht einfach nur »irgendeinen Job« machen, um deinen Lebensunterhalt zu sichern. Es ist dir vermutlich extrem wichtig, dass du durch deinen Beruf einem guten Zweck dienst, die Welt ein Stückchen besser machst oder sie verschönerst. Du möchtest Sinnhaftigkeit bei der Arbeit erfahren und das »Warum« hinter deiner Tätigkeit mag manchmal sogar wichtiger sein als das »Was«. Du blühst auf, wenn du dich für eine Sache einsetzt, die größer ist als du selbst. Wenn du deine hohen Werte im Beruf nicht ausleben kannst, kann dich das sogar krank machen. Als HSP kannst du dir also folgende Fragen stellen:
- Welche Organisationen setzen sich für etwas ein, das ich ebenfalls unterstützenswert finde?
- Welche Firmen stellen (nachhaltige) Produkte her, die wirklich zur Lebensqualität vieler Menschen beitragen?
- Was gibt mir das Gefühl, etwas »Sinnvolles« zu tun?
- Was möchte ich auf dieser Welt verändern? Gibt es Organisationen, die genau das schon tun und für die ich arbeiten könnte?
Sinnerfüllung ist für deine berufliche Zufriedenheit ein ganz zentraler Faktor. Verzweifle jedoch bitte nicht, wenn du (noch!) nicht deinen Traumberuf mit Sinn gefunden hast. Falls du in deinem aktuellen Job gerade unglücklich bist, rede dir nicht ein, dass du erst im richtigen Job etwas Sinnvolles beitragen kannst, sondern bringe schon jetzt in deine Arbeitswelt so viel Sinnhaftigkeit ein wie möglich. Du kannst deine Arbeitszeit immer dazu nutzen, der Welt in irgendeiner Art und Weise zu dienen, selbst wenn du deine eigentliche Arbeit als wenig sinnvoll empfindest: Egal, ob du deinen Kolleg:innen ganz bewusst aufmerksam zuhörst, ihnen einen gesunden Umgang mit dir selbst und mit der Umwelt vorlebst,ab und zu einen Kuchen, gute Laune oder ein paar ehrliche Komplimente und Wertschätzung mitbringst - die Art und Weise, wie du deine Arbeit erledigst und wie du bei der Arbeit BIST, hat einen viel größeren Impact und zieht größere Kreise als du denkst. Ganz unabhängig davon, für welches Unternehmen du arbeitest und was dein eigentlicher Job ist.
Kreativität
Als HSP hast du vermutlich den Drang, etwas (eigenes) zu erschaffen. Tätigkeiten, bei denen das Endergebnis immer gleich ist, unabhängig davon, wer sie erledigt, könnten dich daher schnell langweilen. Du möchtest etwas von DIR SELBST mit in deine Arbeit einbringen - daher eignen sich kreative Berufsfelder für dich besonders gut. Ein paar Beispiele sind z.B. Design, Content-Creation, Produktentwicklung, schriftstellerische und redaktionelle Tätigkeiten, Innenarchitektur, Event-Planung, Floristik, Fotografie, etc. Bevor du dich also für einen bestimmten Karriereweg, ein Studium oder einen konkreten Job entscheidest, frage dich:
- Das, was ich in diesem Beruf tue - würden die jeweiligen Ergebnisse anders aussehen, wenn die Aufgabe von jemand anderem gemacht würde? Ein Beispiel: Bei der Aufgabe, einen Jahresabschluss für die Buchhaltung eines Konzerns zu erstellen, ist es wichtig, dass am Ende die Zahlen stimmen - egal, wer diese Aufgabe macht. Wenn wir allerdings an zwei Personen jeweils die Aufgabe geben würden, eine wunderschöne Hochzeitstorte zu gestalten, würden wir ziemlich sicher zwei komplett unterschiedliche Torten bekommen - da in jede von ihnen die Kreativität der entsprechenden Person eingeflossen ist.
- Welche kreative Tätigkeit macht mir besonders Spaß? Mit welchen Materialien arbeite ich gerne?
- Was möchte ich erschaffen? Für wen?
Achte bei deiner Recherche nach potenziellen Arbeitgebern darauf, dass dort kreative Aufgaben wirklich gewürdigt werden. Vermeide also z.B. klassische Design-, Event- oder Texter-Agenturen, wo es das Ziel ist, möglichst viel Output für wenig Geld unter hohem Zeitdruck und mit harten Deadlines zu produzieren. Als HSP hast du womöglich bereits beim Lesen der Worte »Zeitdruck« und »Deadlines« Bauchschmerzen bekommen ;) Denn deine Kreativität gedeiht am besten, wenn du in Ruhe und sorgfältig arbeiten sowie eine Sache nach der anderen erledigen kannst. Finde heraus, ob dein potenzieller Arbeitgeber deine Liebe zum Detail teilt und schätzt - wenn das der Fall ist, kann die Kreativität in dir zur vollen Blüte kommen.
Du musst aber auch gar nicht unbedingt nach freien Stellen oder passenden Arbeitgebern suchen. Besonders für kreative Berufe kommt auch eine Selbstständigkeit in Frage. Auf diesen Punkt gehen wir weiter unten noch gesondert ein.
Empathie
Neben deiner kreativen Ader ist ein weiteres Geschenk von dir an diese Welt vermutlich dein großes Einfühlungsvermögen. Deine Empathie für andere Menschen bzw. alle möglichen Lebewesen ist vielleicht sogar manchmal größer, als es dir gut tun würde. Unter der Voraussetzung, dass du lernst, dich selbst abzugrenzen und gut für dich und deine Bedürfnisse zu sorgen, bist du als HSP also geradezu prädestiniert für Berufe, in denen man mit Menschen zusammenarbeitet, wie zum Beispiel in psychologischen, pädagogischen und beratenden Berufen. Wenn deine emotionale Sensibilität besonders stark ausgeprägt ist, spürst du sogar die Emotionen anderer Menschen, als wären es deine eigenen. Dies kann sowohl eine absolute Superkraft als auch dein größter Pain-Point sein. Viele HSP fühlen sich gerade aufgrund der hohen Empathie zu sozialen Berufen hingezogen, brennen dann jedoch schnell aus, da sie sich nicht genug um sich selbst kümmern. Denn bei all dem Einfühlungsvermögen, das du hast, bist du als HSP gleichzeitig sehr anfällig für Stress - und gerade in sozialen Berufen kann das schnell gefährlich werden. Natürlich gibt es auch HSP, die in sozialen Berufen glücklich sind und dort ihre Berufung gefunden haben. Es hängt alles davon ab, wie gut du dich selbst und deine individuelle Sensibilität kennst und wie konsequent du die Verantwortung für deine eigene Selbstfürsorge übernimmst.
Wenn du im sozialen Bereich arbeiten möchtest oder das bereits tust, ist es außerdem enorm wichtig, dass du dein hochsensibles Wesen voll und ganz akzeptierst und dafür sorgst, dass dein Arbeitsumfeld zu deiner Hochsensibilität passt.
Arbeitsumfeld und Arbeitsweise
Ich wage zu behaupten, dass dein Arbeitsumfeld und die Art und Weise, wie du arbeitest (also auch, wie du in Bezug auf deine Arbeit mit dir selbst umgehst) der wohl wichtigste Faktor dafür ist, ob du als HSP im Job glücklich bist oder nicht. Dieser Punkt ist fast noch wichtiger als die berufliche Tätigkeit an sich - denn als HSP hast du andere Bedürfnisse als die Mehrheit der Menschen. Solange du diese nicht akzeptierst, stehen die Chancen schlecht, dass du jemals wahre Freude und Erfüllung bei der Arbeit empfindest. Kommen dir Gedanken wie diese hier z.B. bekannt vor?
- Wie kann ich jetzt schon wieder Hunger haben?!
- Warum bin ich nur so müde?
- Ich kann mich einfach nicht konzentrieren - stört der ständige Lärm im Büro denn niemanden?
- Alle anderen schaffen … doch auch.
- Was stimmt nicht mit mir?
Wenn du aus diesem Artikel nur eine einzige Sache für dein (Berufs-) Leben als HSP mitnehmen solltest, dann ist es das: Vergleiche dich nicht mit anderen. Höre damit auf. Sofort. Circa 80 Prozent aller Menschen sind nicht hochsensibel. D.h. du bist umgeben von Menschen, die die Welt und alle Außenreize ganz anders wahrnehmen als du. Es gibt Menschen, die tatsächlich mehrere Stunden am Stück konzentriert durcharbeiten können, ohne auch nur eine einzige Pause zu machen, denen es nichts ausmacht, wenn sie mal eine Nacht schlecht schlafen und die Störgeräusche von außen kaum wahrnehmen, weil sie diese herausfiltern. Es ist super und wichtig, dass es diese Menschen gibt. Es ist auch super und wichtig, dass es DICH gibt! Du funktionierst eben einfach anders. Es kann z.B. sein, dass der »klassische« Arbeitstag mit einer längeren Mittagspause nicht für dich funktioniert, weil du mehrere kleine Pausen (und Mahlzeiten!) zwischendurch benötigst, um konzentriert zu arbeiten.
Wenn du wie 70 Prozent der HSP zusätzlich noch introvertiert bist, laugt dich ein Gang in die volle Kantine mit den vielen Menschen, Geräuschen, Gesprächen und anderen Reizen vielleicht aus und ein Spaziergang alleine in der Natur würde deinen Akku besser wieder aufladen. Wenn deine sensorische Sensibilität stark ausgeprägt ist, kann es helfen, ein Großraumbüro zu vermeiden oder dort zumindest Noise-Cancelling-Kopfhörer zu verwenden.
Der erste Schritt, um dir das richtige Arbeitsumfeld zu erschaffen, ist, wie oben schon beschrieben, die volle Akzeptanz deiner hochsensiblen Natur. Wenn du von dir verlangst, auf die gleiche Art und Weise zu leben und zu arbeiten wie die Mehrheit der Menschen, ist das, als würdest du versuchen, mit einer Pinzette den Rasen zu mähen. Akzeptiere, dass du anders bist (falls du wissenschaftliche Evidenz dafür brauchst, wirf doch mal einen Blick auf Dr. Elaine Arons Webseite).
Im nächsten Schritt geht es darum, herauszufinden, WAS du eigentlich brauchst, um effektiv arbeiten zu können. Frage dich:
- Was gibt mir Energie und was zieht mir Energie?
- Bin ich eher extra- oder introvertiert?
- Möchte ich den Großteil der Arbeitszeit mit anderen Menschen oder lieber alleine verbringen?
- Wie viele Stunden pro Tag oder pro Woche kann bzw. möchte ich überhaupt arbeiten?
- In welchem räumlichen Umfeld fühle ich mich wohl?
- Welche meiner Sensibilitäten ist am stärksten ausgeprägt und verdient daher besondere Aufmerksamkeit? (Welche die verschiedenen Sensibilitäten sind, hat uns Expertin Lore Sülwald im Interview erzählt - wenn dich das interessiert, höre dir das Interview als Podcast an oder lies unseren Artikel dazu)
- Wann und wie oft brauche ich Pausen?
- Mit wem und in welcher Arbeitskultur möchte ich am liebsten arbeiten?
Ich empfehle dir wirklich von ganzem Herzen, dass du bei der Berufswahl dem Aspekt des Arbeitsumfeldes mindestens genauso viel Aufmerksamkeit widmest wie allen anderen Kriterien zusammen. Denn das ist die Basis dafür, dass es dir, deinem Nervensystem und deinem Körper gut geht. Arbeitest du bereits in einem Job, den du liebst, nur das Umfeld oder die Bedingungen passen noch nicht? Dann suche das Gespräch mit deinem/deiner Vorgesetzten und mache ihm/ihr deutlich, dass die Qualität deiner Arbeitsergebnisse z.B. in einem kleineren Büro mit weniger Menschen, von zuhause aus, mit anderen Arbeitszeiten und einer anderen Pausenregelung (oder besser: gar keiner) profitieren würde. Schlage ggf. einen konkreten Zeitraum vor, um die neuen Arbeitsbedingungen erst einmal auszuprobieren, wenn dein Gegenüber nicht gleich überzeugt davon ist.
Freiheit und Sicherheit
Als HSP kann es außerdem zur Herausforderung werden, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit im Berufsleben (und auch in anderen Lebensbereichen, wie z.B. Beziehungen) zu finden. Viele HSP sehnen sich nämlich im Kern danach, ihr »eigenes Ding« zu machen und fühlen sich am wohlsten, wenn sie ganz allein entscheiden können, wann, wie und wo sie arbeiten - das hängt eng mit den besonderen Bedürfnissen an das Arbeitsumfeld zusammen. Daher ist eine Selbstständigkeit für einige HSP eine geeignete Alternative zur klassischen Festanstellung.
Andererseits haben wir HSP oftmals gleichzeitig ein besonders hohes Bedürfnis nach Sicherheit. Um unsere kreativen Potenziale zu entfalten, brauchen wir auf der einen Seite einen hohen Grad an Freiheit und Selbstbestimmung - auf der anderen Seite können zu viele Unsicherheiten, Geldsorgen und Zukunftsängste unsere Kreativität sogar lähmen und noch dazu unsere mentale Gesundheit schädigen. Es ist daher eine ganz individuelle Entscheidung, ob und in welchen Lebensphasen für dich eine Festanstellung oder eine Selbstständigkeit besser geeignet ist. Eine Nebenselbstständigkeit (eine Teilzeitanstellung kombiniert mit einer Selbstständigkeit) kann einen Zwischenweg darstellen, ein geregeltes Einkommen mit dem eigenen Herzensprojekt zu kombinieren. Doch auch hier ist es ganz wichtig darauf zu achten, insgesamt nicht zu viele Stunden zu arbeiten und gut für dich zu sorgen. Auch hier gilt wieder: Akzeptiere, wie du bist und sei wirklich ehrlich zu dir selbst. Wenn du also vor der Entscheidung stehst, ob du lieber angestellt oder selbstständig arbeiten möchtest, kannst du beispielsweise folgende Punkte mit einbeziehen:
- Wie viel finanzielle Sicherheit brauche ich? Was stellt für mich hier das absolute Minimum dar? (z.B. ein Mini-Job oder ein Teilzeit-Job mit wenigen Stunden pro Woche, ein Polster an Ersparnissen oder ein bestimmtes Honorar)
- Wie viel Freiheiten brauche ich? Was stellt für mich hier das absolute Minimum dar? (z.B. Gleitzeit, Home-Office, freie Pausen-Einteilung bei Festanstellung)
- Bin ich nur für mich alleine verantwortlich oder habe ich z.B. eine Familie zu versorgen?
- Gibt es eine:n Partner:in, der/die das Risiko einer Selbstständigkeit mittragen kann?
Jede Situation ist individuell. Das Wichtigste ist, dass du eine Entscheidung für dich triffst, die auf der Realität basiert. Also darauf, was sich für DICH gut, sicher genug und frei genug anfühlt und NICHT darauf, was für andere »normal« ist.
Fazit
Dieser obige Satz gilt natürlich in gewisser Weise für alle der beschriebenen Kriterien. Versuche generell, dich davon zu lösen, was andere in ihrem Leben priorisieren. Du musst weder »Karriere machen«, noch Familie und Job »unter einen Hut« bekommen, wenn du das nicht möchtest, und schon gar nicht »die Welt retten«. Zwinge dich nicht in Strukturen hinein, die nicht zu deinem Wesen und nicht zu deinem Biorhythmus passen. Erlaube es dir auch, denjenigen die Arbeit an den »Frontlines« zu überlassen, die das richtig gut können, und wirke im Hintergrund, wenn du das bevorzugst. Trau dich, die Bedingungen zu schaffen, die deine hochsensible Natur braucht, um zu erblühen. Denn wenn es dir gut geht und wenn deine Hochsensibilität leben darf, dann wirst du auf ganz natürliche Weise zu einer Quelle der Ruhe, der Ermutigung und der Inspiration für andere. Und dann lebst du quasi »automatisch« deine Berufung. Ganz egal, wo du arbeitest.