Wir leben und arbeiten in der VUCA Welt - einer Welt, die von Unbeständigkeit (Volatility), Ungewissheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity) geprägt ist. Talente stehen ebenso wie Führungskräfte und Personalverantwortliche vor der Herausforderung, die berufliche und persönliche Entwicklung in diesem Kontext zu gestalten bzw. zu begleiten. Doch zwischen dem »Meer« der Möglichkeiten und dem »Nebel« der Ungewissheit fehlt den meisten die Orientierung.
Auf der Suche nach Antworten habe ich einen hilfreichen Ansatz wiederentdeckt.
Effectuation
Effectuation ist eine Methode unternehmerischer Expertise. Die Kognitionswissenschaftlerin Dr. Saras Sarasvathy hat »Expert Entrepreneurs«, d.h. Serien-Unternehmer*innen mit mindestens 15 Jahren Erfahrung, beim Denken zugehört und dabei eine Logik erkannt.
Diese Logik des Denkens, Entscheidens und Handelns befähigt Menschen insbesondere in ungewissen Zeiten dazu, Neues in die Welt zu bringen und die Zukunft aktiv zu gestalten.
Damit eignet sich die Effectuation-Logik ebenso für die Entwicklung beruflicher Optionen im Sinne einer agilen Karriere- bzw. Entwicklungsgestaltung.
Die Mittel: Was ist im Kühlschrank?
In Bezug auf die eigene Entwicklung wird uns seit Jahr und Tag vermittelt: Wenn du etwas erreichen willst, brauchst du ein klares, möglichst smartes Ziel. Wenn wir das plakativ in die alltagspraktische »Küchensprache« übersetzen, dann wäre das ein Wunschgericht. Das Gericht der Wahl ist das Ziel, was ich kochen bzw. erreichen will. Dann suche ich mir nach Rezept alle erforderlichen Küchenhelfer und Zutaten zusammen, gehe einkaufen und koche dann Schritt für Schritt mein Wunschgericht.
Das alles macht absolut Sinn, wenn die Umweltbedingungen stabil sind und die Zukunft einigermaßen vorhersehbar und planbar ist. Doch wir haben erst kürzlich erlebt, dass dieses Vorgehen in der Corona-Krise nicht mehr funktioniert. Ungewisse Zeiten werden auch die Zukunft in der VUCA-Welt bestimmen. Die Ziele, und erst recht der Weg dorthin, sind selten klar ersichtlich und liegen meist im Nebel. Selbst wenn wir ein Ziel im Blick haben, kann es sein, dass uns der Zufall und die Umstände einen Strich durch die Rechnung machen.
Daher orientiert sich die Effectuation-Logik nicht an einem Ziel, sondern an den eigenen Mitteln.
Die zentrale Frage lautet nicht:
Was will ich kochen? = Was ist mein (Entwicklungs-)Ziel?
sondern:
Was habe ich im »(Kühl-)Schrank«? = Was sind meine Mittel?
Unsere Mittel repräsentieren unsere eigenen Ressourcen, also prägnante Persönlichkeitsmerkmale, Stärken und Fähigkeiten, Wissen und Erfahrungen sowie unsere Kontakte. Anhand dieser Mittel bzw. »Zutaten« ergeben sich verschiedene, mögliche Optionen.
Der Purpose: Was ist das Anliegen?
Um der Entwicklung auch ohne klares Ziel eine Richtung zu geben, orientieren wir uns am Purpose. Dabei geht es darum, was mich innerlich antreibt (Motive), was mir wichtig ist (Werte) und wofür ich meine Mittel einsetzen möchte (Purpose/Anliegen).
Zurück zur Küchenmetapher. Für einige dient das Kochen nur dazu, das Hungergefühl zu befrieden. Für andere spielen ein gesunder und nachhaltiger Lebensstil auch bei der Ernährung eine wesentliche Rolle. Wieder andere nähren mit dem Kochen ihre sozialen Beziehungen.
Im Unterschied zu einem Ziel (Endzustand) ist der Purpose ein sinnorientiertes Anliegen, das ich kontinuierlich, ja tagtäglich auf verschiedene Art und Weise zum Ausdruck bringen kann.
Die Partner: Wer ist bereit, mitzumachen?
Ein weiteres Prinzip der Effectuation-Logik sind Partnerschaften. Wenn wir noch einmal in die Küche schauen, wird schnell klar, warum. Ich habe meine Zutaten und Klarheit, wozu ich mit meinem Gericht beitragen möchte. Doch meine eigenen Mittel und damit Optionen sind begrenzt.
Hier kommt das Prinzip der Co-Kreation ins Spiel, d.h. wir kochen gemeinsam mit anderen, die ein ähnliches Anliegen verfolgen und bereit sind, mitzumachen. Andere haben weitere »Zutaten« im (Kühl-)Schrank. Gemeinsam können wir ambitionierter kochen und ein reich gedecktes Buffet füllen, also viel mehr und besser kochen als Einzelne dies mit ihren begrenzten Mitteln könnten.
Optionen und Experimente: Was ist jetzt möglich?
Insbesondere in ungewissen Zeiten ist es schwierig bis unmöglich, vorab zu entscheiden, welches Ziel und welcher Weg für uns richtig sind. Zumal ein Ziel mit einem großen Zeit- und Energieaufwand verbunden sein kann, um dann eventuell auf der Zielgeraden festzustellen, dass es unsere Erwartungen nicht erfüllt. Genau aus diesen Gründen bzw. Ängsten bleiben einige im Gedankenkarussell stecken.
In der Effectuation-Logik geht es darum, schneller raus aus dem Denken und Mutmaßen und rein ins Handeln und Erfahren zu kommen. Das bedeutet: Optionen treten an die Stelle von Zielen. Anstatt lange den Weg für das große Ziel zu planen, testen wir in kurzen Zyklen verschiedene Optionen mit Hilfe von Experimenten oder sogenannten Prototypen.
Die Fragen lauten:
- Welche Optionen sind für mich sichtbar und relevant (im Sinne des Purpose)?
- Wie kann ich diese Optionen testen?
- Was kann ich JETZT tun?
»Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.«
(Martin Walser)
Der leistbare Invest / Verlust
Die Effectuation-Logik spricht nicht vom gewünschten Ertrag, sondern vom leistbaren Verlust. Ich bezeichne es lieber als Invest.
Indem wir Optionen testen, minimieren wir unseren Einsatz und das Risiko. Anstatt viel Zeit, Geld und Energie in ein großes Ziel zu investieren, fokussieren wir uns mit den eigenen Mitteln auf den nächsten machbaren Schritt und gehen los.
Sollten wir Scheitern, haben wir die Zeit, das Geld und die Energie nicht verloren. Aus einem Experiment gewinnen wir neue Erkenntnisse, die uns wiederum helfen, passendere Optionen zu entwickeln.
Ein weiterer Vorteil ist, dass wir die Umstände und Zufälle auf unserem Weg nicht als Feinde der Zielerreichung vermeiden, sondern sie mit offenen Armen empfangen und gestaltend integrieren – nach dem Prinzip der Improvisation: »Ja, UND …!«
Fazit. Entwicklung in ungewissen Zeiten
Wenn das Terrain unbekannt, die Richtung noch vage ist und ich keine Landkarte oder ein Navigationsgerät habe, hilft es nichts, lange nachzudenken oder Vollgas zu geben. Ich muss Menschen (Partnerschaften) nach dem Weg fragen und/oder langsam losfahren (Optionen testen), um das Ganze zu erkunden. Ab einem bestimmten Punkt kann ich dann schneller fahren. Dann ist es auch sinnvoll, von der Effectuation-Logik wieder in die zielorientierte Planung zu wechseln.
Die Praxis
In Kooperation mit the people network haben wir mithilfe der Effectuation-Logik das Talent Programm bei einem führenden Telekommunikationsanbieter neu gestaltet. Die Talente durchlaufen in einem Jahr drei iterative Entwicklungszyklen. Dabei erkennen sie ihre eigenen Mittel und werden sich ihres Purpose bewusst. Sie gehen in Dialog und Interaktion, um sich gegenseitig zu unterstützen und testen mit Hilfe von Experimenten relevante Optionen. Auch in ungewissen Zeiten eröffnen sie sich auf diese Art und Weise neue Entwicklungswege.
Mehr Hintergrundinformationen zur Effectuation-Methode findest du unter: Effectuation Forschung und Praxis. Neue Wege unternehmerischen Denkens und Handelns
Über Katja Kremling:
Katja ist Purpose-Coach, Autorin und Bloggerin. Mehr inspirierende Denkanstöße und Übungen für mehr Erfüllung, Achtsamkeit & Klarheit im Arbeitsalltag auf Katja's Blog »Montags-Impulse«. Darüber hinaus begleitet Katja als Purpose-Coach in Kooperation mit the-people-network.com Menschen und Organistionen bei ihrer Potentialentfaltung und unterstützt u.a. beim Change Management und der Leitbildentwicklung.
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