Dieser Gastartikel wurde verfasst von Jacqueline Volmari, Associate bei Pusch Wahlig Workplace Law.
»Bei uns gibt es sowas nicht!«, ist ein Satz, der mir häufig begegnet, wenn es um nicht wertschätzenden bis hin zu benachteiligendem Verhalten gegenüber weiblich gelesenen Personen am Arbeitsplatz geht. Am oberen Ende dieser Skala steht die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, um die es in diesem Beitrag gehen soll. Der gerade erst veröffentlichte Fünfte Gemeinsame Bericht »Diskriminierung in Deutschland« der Antidiskriminierungsstelle des Bundes besagt, dass fast jede zweite gemeldete Diskriminierung im Arbeitsleben aufgrund des Geschlechts stattfindet. Dies ist nicht überraschend, aber weiterhin erschreckend, denn: Diskriminierende Dynamiken haben nicht nur verheerende Auswirkungen auf die Betroffenen, sie wirken sich auch unmittelbar auf die Produktivität des Unternehmens aus. Nur, wer sich sicher und wohl am Arbeitsplatz fühlt, kann sein Potential wirklich entfalten und kommt gerne zur Arbeit. Ist dies nicht der Fall, steigen die Krankenstände und vor allem die Fluktuation. Dringen derartige Vorfälle nach außen, verliert das Unternehmen nachvollziehbar an Attraktivität für talentierte Bewerber:innen. Prävention und Sensibilisierung lohnt sich daher aus vielen Gründen.
Oft wissen aber sowohl Betroffene als auch Verantwortliche gar nicht, wann eine sexuelle Belästigung überhaupt vorliegt. Denn der Begriff wird oft nur mit physischen Übergriffen in Verbindung gebracht. Dass die Schwelle viel niedriger liegt, wissen nur wenige.
Was ist eine sexuelle Belästigung im rechtlichen Sinne?
Starten wir also mit dem Begriff der sexuellen Belästigung. Dieser ist seit 2006 im sog. Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) definiert. Danach liegt eine sexuelle Belästigung vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.
Dieser sehr umfangreiche Gesetzeswortlaut zeigt, dass die sexuelle Belästigung viele Formen hat.
Klassischerweise teilt man diese in die verbale, nonverbale und die physische Form auf. Eine sexuelle Belästigung in verbaler Form ist z.B. der zweideutige Kommentar unter Kolleg:innen oder auf dem Flur. Die Klassiker der nonverbalen sexuellen Belästigung sind der anzügliche Blick oder das Zeigen von »lustigen« pornographischen Bildern, wobei in letzteren Fällen der klassische Wandkalender von Bildern in WhatsApp oder anderen Messengern abgelöst wurde. Die physische, also körperliche, Form liegt dann vor, wenn es zu ungewünschten Berührungen oder Schlimmerem kommt. Es ist daher entgegen weitläufigen Ansichten nicht richtig, dass eine sexuelle Belästigung nur dann vorliegt, wenn es zu Körperkontakt kommt. Auch Worte oder Bilder können die gesetzlichen Anforderungen bereits erfüllen. Die Aufzählung im Gesetz ist im Übrigen nur beispielhaft und durch beliebig viele Fälle erweiterbar.
Das Gesetz spricht von einem »sexuell bestimmten« Verhalten. Hierbei kommt es aber nicht, wie das Wort »bestimmt« vermuten lassen könnte, auf das subjektive Ziel des Handelnden an, eine sexuelle Motivation ist nicht zwangsläufig erforderlich. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) – also das höchste deutsche Gericht für alle Fragen des Arbeitsrechts – betonte vielmehr, dass gerade am Arbeitsplatz die sexuelle Belästigung häufiger von Hierarchien und Machtausübung geprägt ist als von sexuell bestimmter Lust1. Deswegen ist auch nicht entscheidend, ob die handelnde Person die betroffene Person tatsächlich sexuell belästigen wollte.
Eine sexuelle Belästigung muss sich auch nicht auf einen einmaligen Vorfall beschränken. Es ist auch eine für sich selbst bestehende sexuelle Belästigung, wenn eine Person eine Gesamtsituation aufbaut oder aufrechterhält, die von sexualisierter hierarchischer Einflussnahme geprägt ist2. Hierzu gab es ein eindrückliches Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Köln, in dem eine Führungskraft über Jahre hinweg regelmäßig die Brüste, den Körper sowie die Kleidung oder die Frisuren der (hierarchisch unter ihm stehenden) Arbeitnehmer:innen kommentiert hatte. Dies hat dazu geführt, dass die betroffenen Personen jeden Morgen überlegt haben, was sie anziehen oder wie sie sich schminken und zeigen sollen, um bloß keine Bemerkung durch ihren Vorgesetzten zu riskieren. Zudem haben sie sexistische Äußerungen jahrelang über sich ergehen lassen.
Der Gesetzgeber geht zudem davon aus, dass das Verhalten »unerwünscht« sein muss. Hierbei sind zwei Dinge wichtig:
- Es ist egal, wie die handelnde Person das Verhalten meinte, ob das Verhalten z.B. »nur ein Spaß war«. Entscheidend ist allein, ob ein objektiver Dritter das Verhalten als unerwünscht einstufen würde. Als handelnde Person kann ich meinen Maßstab daher nicht zum allgemeinen Maßstab machen, eine entsprechende Sensibilität ist (gerade am Arbeitsplatz) notwendig.
- Das Merkmal der Unerwünschtheit erfordert nicht, dass die betroffene Person seine/ihre ablehnende Einstellungen aktiv verdeutlicht. Man muss also nicht »Nein« sagen oder sich wehren, damit das Verhalten als unerwünscht eingestuft wird. Gerade in der Realität werden derartige Situationen häufig schweigend ertragen.
Hervorzuheben ist zuletzt noch, dass es für eine arbeitsrechtliche Einordnung als sexuelle Belästigung nicht darauf ankommt, ob im strafrechtlichen Sinne eine sexuelle Belästigung vorliegt. Der Maßstab im Arbeitsrecht ist deutlich niedriger als der im Strafrecht. Dieser Fehlglaube, dass es auf die strafrechtliche Bewertung ankäme und auch strafrechtliche Maßstäbe anzulegen sind, führt aus meiner Erfahrung bei vielen betroffenen Personen zu einem Gefühl der Machtlosigkeit. Weil »Aussage gegen Aussage stehe«, könne man als betroffene Person nichts ausrichten. Dass dies im Arbeitsrecht mitnichten der Fall ist, hat das Arbeitsgericht Solingen3 zuletzt sehr eindrücklich bestätigt: Das strafrechtliche Verfahren gegen einen Arbeitnehmer, der eine Auszubildende oral befriedigt hatte, war eingestellt worden. Der Grund für die Einstellung: Sie habe sich nicht ausreichend gewehrt. Die Auszubildende hatte aber mehrere Übergriffe schlicht aus Angst ertragen. Das Arbeitsgericht Solingen hat hingegen deutlich betont, dass es auf einen geäußerten entgegenstehenden Willen für die arbeitsrechtliche Bewertung nicht ankommt. Der handelnde Arbeitnehmer musste das Unternehmen sofort fristlos verlassen.
Welche Pflichten haben Arbeitgebende?
Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie Unternehmen ihre Arbeitnehmer:innen vor sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz schützen müssen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen präventiven Maßnahmen und Maßnahmen im Fall des Verdachts oder des Vorliegens einer sexuellen Belästigung.
Präventive Pflichten
Ich fasse es gerne wie folgt zusammen: Arbeitgebende sind dazu verpflichtet, diskriminierungsfreie und sichere Räume zu schaffen. Das bedeutet, dass sie erforderliche Maßnahmen zum Schutz vor Benachteiligungen treffen müssen. Arbeitgebende müssen dafür zunächst den Text des AGG sowie im Betrieb öffentlich bekannt machen. Hierbei wird häufig der Weg über das Intranet gewählt.
Arbeitgebende sollen außerdem in geeigneter Weise, insbesondere im Rahmen der beruflichen Aus- und Fortbildung, auf die Unzulässigkeit von sexuellen Belästigungen hinweisen und darauf hinwirken, dass diese unterbleiben. Welche vorbeugenden Maßnahmen dabei erforderlich sind, kann je nach Einzelfall unterschiedlich zu beurteilen sein. Es gilt als Erfüllung dieser Pflichten, wenn Arbeitgebende ihre Mitarbeiter:innen entsprechend schulen.
Viele Arbeitgebende zeigen sich hierbei aber passiv. Dies ist verwunderlich, denn Arbeitgebende können für entsprechende Vorfälle ebenfalls haftbar gemacht werden. Auch personalpolitisch ergibt eine proaktive Vorgehensweise Sinn, weil gerade (aber nicht nur) jüngere Arbeitnehmer:innen verstärkt auf eine wertschätzende Arbeitsumgebung achten.
Nach dem AGG haben die Beschäftigten weiterhin das Recht, sich bei den zuständigen Stellen des Unternehmens zu beschweren, wenn eine sexuelle Belästigung oder eine sonstige Benachteiligung vorgefallen ist. Hieraus ergibt sich, dass Arbeitgebende eine sog. Beschwerdestelle einrichten und die Information hierüber im Betrieb öffentlich bekannt machen müssen. Umfragen der Antidiskriminierungsstelle im Jahr 2019 haben gezeigt, dass 40 Prozent der Beschäftigten keine Kenntnis über eine betriebsinterne Beschwerdestelle hatten und diese dementsprechend auch nicht nutzten4. In unserer täglichen Arbeit als Rechtsberater:innen beobachten wir, dass viele Fälle mittlerweile über die sog. internen Meldestellen (eher bekannt als Whistleblower-Hotlines) gemeldet werden, die die meisten Arbeitgebende Ende 2023 einführen mussten. Dass die Meldungen dort anonym abgegeben werden können, erhöht die Bereitschaft, bestimmte Vorkommnisse publik zu machen.
Nun die Frage an die Leser:innen: Wisst ihr, wohin ihr euch an eurem Arbeitsplatz wenden könnt, wenn es um das Thema der sexuellen Belästigung geht? Oder, wenn ihr Führungskräfte seid: Wisst ihr, wo die Beschwerdestelle in eurem Unternehmen eingerichtet ist?
Aufklärung und Reaktion
Die andere Seite der Medaille stellen die Pflichten dar, die eintreten, wenn der Vorwurf der sexuellen Belästigung im Raum steht. Hierbei muss man zunächst die Konfliktlage von Arbeitgebenden verstehen. Arbeitgebende müssen die potenziell betroffenen Personen vor weiteren Übergriffen schützen und hierfür entsprechende Maßnahmen ergreifen. Gleichzeitig treffen Arbeitgebende aber auch Schutzpflichten gegenüber der beschuldigten Person, welche nicht mit unverhältnismäßigen (Ermittlungs-)maßnahmen belastet werden darf (Stichwort: Persönlichkeitsrecht). Dies gilt vor allem, wenn es keine greifbaren Anhaltspunkte dafür gibt, dass tatsächlich eine Belästigung vorlag. Daher sind genaue, aber zügige Ermittlungen durch Arbeitgebende zur Aufklärung des Vorfalls unerlässlich. Führungskräfte müssen einschätzen können, ob überhaupt eine sexuelle Belästigung vorlag, welche Ursachen es hierfür gab und wie schwer der Vorfall war.
Typischerweise (aber nicht immer) werden zunächst Gespräche mit der betroffenen und der beschuldigten Person geführt. Diese sollten unbedingt dokumentiert werden und von Seiten des Arbeitgebenden mindestens zwei Personen anwesend sein. Aber auch weitere »Beweismittel« können je nach Situation genutzt werden. In der Praxis sind dies oftmals Chatverläufe, die Aufschluss über das Verhältnis zwischen den beteiligten Personen geben (hier ist aber Vorsicht hinsichtlich des Datenschutzes geboten!). Wichtig ist, dass der Kreis der involvierten Personen möglichst klein bleibt. Im Zweifel sollte man sich Rechtsrat einholen.
Kommen Arbeitgebende nun zu dem Ergebnis, dass entweder eine sexuelle Belästigung vorlag oder (in der Praxis deutlich häufiger), dass ein begründeter Verdacht vorliegt, muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, welche Maßnahmen gegenüber der belästigenden Person zu treffen sind. Die Maßnahme muss geeignet sein, um eine Wiederholung auszuschließen. Gleichzeitig darf sie im Verhältnis zur Schwere des Vorfalls nicht überzogen sein – keine einfache Aufgabe. Die Bandbreite reicht hier vom Ausspruch einer Abmahnung bis hin zum Ausspruch einer (fristlosen) Kündigung. Wir erleben häufig, dass sich Unternehmen nach einem solchen Vorfall in jedem Fall dauerhaft von der handelnden Person trennen wollen.
Neben diesen gesetzlichen Pflichten sollte auch ein sensibler Umgang mit den potenziell betroffenen Personen gepflegt werden. Als Führungsperson sollte man wertschätzend reagieren, wenn eine Person entsprechende Vorfälle meldet. Die Meldung sollte ernst genommen und intern an die entsprechenden Stellen weitergegeben werden. Der betroffenen Person kann dann z.B. eine kurze Freistellung angeboten werden. Zu empfehlen ist es auch, auf weitere (interne oder externe) Beratungsstellen zu verweisen, wie z.B. den Betriebsrat oder die Antidiskriminierungsstelle.
Welche Rechte haben betroffene Personen?
Betroffene Personen haben unter Umständen die Möglichkeit, die Arbeitsleistung zu verweigern, wenn Arbeitgebende keine oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen zur Unterbindung einer sexuellen Belästigung treffen. Außerdem haben Betroffene auf verschiedensten Wegen die Möglichkeit, Schadensersatz und/oder Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Diese können sich nicht nur gegen die handelnde Person, sondern auch gegen Arbeitgebende richten, wenn diese ihre Pflichten aus dem AGG nicht erfüllen. Je nach Schwere des Vorfalls können Arbeitnehmer:innen auch berechtigt sein, selbst fristlos zu kündigen und Schadensersatz für die Veranlassung zu dieser Kündigung zu verlangen.
Abschließende Worte
Für den Umgang mit nicht wertschätzendem bis hin zu diskriminierendem Verhalten am Arbeitsplatz ist es wichtig, entsprechende tieferliegende Dynamiken zu erkennen, zu verstehen, zu reflektieren und dann bestenfalls zu ändern. Denn häufig kann die Toleranz gegenüber bestimmten (diskriminierenden) Verhaltensweisen im Alltag dazu führen, dass sich die Arbeitsatmosphäre für die betroffenen Personen immer weiter verschlechtert, weil nicht wertschätzendes Verhalten normalisiert und verharmlost wird. Entscheidend ist es daher, die Hintergründe und Begrifflichkeiten zu verstehen, um entsprechend handeln zu können. Wer weiß, wann eine sexuelle Belästigung vorliegt, handelt bestenfalls sensibler oder fühlt sich als betroffene Person gestärkter im Vorgehen gegen eine solche.
Auch Arbeitgebende sollten aktiv werden und ihre Mitarbeitenden entsprechend der gesetzlichen Regelungen schützen. In der Rechtsberatung werden wir häufig erst dann tätig, wenn es zu Vorfällen der sexuellen Belästigung gekommen ist. Hochsaison haben wir im November und Dezember aufgrund von »alkoholbedingten Entgleisungen« auf Weihnachtsfeiern (das ist leider immer noch der Klassiker). Deswegen ist es unerlässlich, die Arbeitnehmer:innen und Führungskräfte bereits vorbeugend nachhaltig zu sensibilisieren und so zu einer respektvollen und sicheren Unternehmenskultur beizutragen, von der alle profitieren.
Über die Autorin
Jacqueline Volmari (jacky / sie) ist Associate bei Pusch Wahlig Workplace Law am Standort Köln. Sie berät Unternehmen, Unternehmer:innen und Führungskräfte in allen Fragen des Arbeitsrechts und bietet Schulungen zu einem respektvollen Miteinander am Arbeitsplatz an. Ihr Profil ist hier abrufbar.
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Literaturquellen
[1] BAG v. 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16, NZA 2017, 1121, Rn. 19.
[2] LAG Köln v. 3. März 2023 – 6 Sa 385/21, BeckRS 2023, 22850
[3] ArbG Solingen v. 11. April 2024 – 2 Ca 1497/23, BeckRS 2024, 11409.
[4] Studie »Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz - Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention« der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, abrufbar hier.