Das Konzept »Arbeit« radikal neu denken: »Ich glaube sehr stark an den Wandel, der von unten und im Bewusstsein der Menschen beginnen darf.«

Der Autor, Aktivist und freie Dozent Tobi Rosswog lebte über 2 Jahre lang nahezu geldfrei und hinterfragt auf radikale Weise das Konzept der Erwerbsarbeit als zentrale Bedingung für soziale Teilhabe und persönliche Identität. Mit seinem ersten Buch »After Work« zeichnet er den Entwurf einer »Post-Work-Gesellschaft«, die nicht mehr Leistungszwang, sondern auf Solidarität und Selbstbestimmung basiert. Erfahrt in diesem Interview, wie dieser Wandel gelingen könnte.
Foto: © Manoel Eisenbacher
von Charlotte Clarke, 9. März 2019 um 08:10

Zuerst herzlichen Glückwunsch zu deiner ersten Buchveröffentlichung! In deinem Buch »After Work« prägst du den Begriff der »Post-Work-Gesellschaft«. Was genau verstehst du darunter?

Tobi Rosswog: Kurz und knapp: Eine Gesellschaft, in der wir nicht mehr arbeiten gehen müssen, sondern tätig werden dürfen. Dann haben wir endlich wieder Zeit für das Wichtige. Die Arbeitskritikerin und Doktorandin der Nachhaltigkeitswissenschaft an der WU Wien Maja Hoffmann, die maßgeblich zu dem Buch beitrug, schreibt in ihrem Definitionsvorschlag:

"Unter »Postwork« oder »Arbeitskritik« lassen sich die neueren Ansätze zusammenfassen, die, aufbauend auf einer langen intellektuellen Tradition, zum einen eine grundlegende Kritik an modernen Arbeits- oder Industriegesellschaften üben, in denen Erwerbsarbeit Dreh- und Angelpunkt ist für die Verteilung von Einkommen, sozialen Rechten, gesellschaftlicher Teilhabe, Anerkennung und Identität. Obwohl gemeinhin als »natürlich« angenommen, ist diese Gesellschaft mit Lohnverhältnis, Arbeitsmärkten und Arbeitslosigkeit historisch und kulturell eine Sonderform menschlichen Zusammenlebens. Zum anderen kritisiert wird die dieser Gesellschaftsform zugrunde liegende Arbeitsideologie oder Arbeitsethik, wonach Arbeit und Produktivität als Selbstzweck gelten und moralisch überhöht werden, völlig unabhängig davon, was gemacht wird oder welche Auswirkungen es hat.

Postwork erschöpft sich allerdings nicht in Kritik, sondern verfolgt die emanzipatorische Überwindung der modernen Arbeitsgesellschaft hin zu einer freieren und demokratischen Organisation sozialen Zusammenlebens, inklusive aller Perspektiven, Fragen und Debatten, die sich daraus ergeben. Als Denkströmung ist Postwork trotz ähnlicher politischer Forderungen dennoch nicht einheitlich: Während manche auf technische Entwicklungen zur Abschaffung der Arbeit setzen, weisen andere gerade auf den denkwürdigen Umstand hin, dass Arbeit unabhängig von ihrer Notwendigkeit in modernen Gesellschaften immer zentraler wird, was auf strukturelle und kulturelle Aspekte hinweist, an denen die Technik nichts ändert. Neuerdings werden diese Fragen auch verstärkt in einem ökologischen Kontext behandelt."

Eine zentrale Motivation für das Ausführen einer Erwerbstätigkeit ist die Identifikation der eigenen Persönlichkeit mit dem Beruf. Welche gedanklichen Prozesse und praktischen Schritte können dabei helfen, sich seiner eigenen Interessen, Talente oder Fähigkeiten bewusst zu werden, die völlig unabhängig davon sein können, welchen Beruf man ausübt?

Tobi: Zunächst gilt es sich wohl Fragen zu stellen:

»Was brauche ich eigentlich wirklich?«

Und: »Was würde ich tun, wenn Geld keine Rolle spielt?«

Außerdem sollten wir versuchen, wieder mehr miteinander über die Themen Arbeit und Geld offener zu sprechen. Im Buch gibt es 12 Schritte in ein arbeitsfreieres Leben. Dort lade ich u.a. dazu ein, sich zu informieren, um einen Blick über Deinen Tellerrand zu wagen, zu minimieren, um loszulassen und Platz zu schaffen, zu pausieren, um sich wieder Zeit für Müßiggang und Faulheit zu erlauben und vieles mehr. Vor allem scheint mir das Vernetzen sehr kraftvoll. Wir können diese Herausforderung nicht alleine lösen, sondern nur gemeinsam.

Was ist mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Planbarkeit? Wie könnte dies in einer Post-Work-Gesellschaft realisiert werden?

Tobi: In einer Post-Work-Gesellschaft haben alle Menschen den Zugang zu dem, was sie brauchen. Materiell sind sie also abgesichert. Das lässt sich fast von heute auf morgen leben, denn es gibt genug für alle. Wir leben in unvorstellbarer Fülle und Mangel ist nur ein kapitalistisches Konstrukt. Eine Welt nach Bedürfnissen und Fähigkeiten ist gar nicht so weit weg.

In unserer Kultur ist die gesellschaftlich Anerkennung stark an die Erwerbstätigkeit geknüpft. Eine Abkehr von dieser Norm kann unter Umständen eine große Verunsicherung oder gar Ablehnung im sozialen Umfeld hervorrufen - eine Erfahrung, die du auch selbst gemacht hast und in »After Work« beschreibst. Welchen Rat kannst du Menschen mit auf den Weg geben, die entgegen der gesellschaftlichen Konventionen aus dem Hamsterrad aussteigen möchten?

Tobi: Du bist nicht allein! Meine Erfahrungen sind, dass dieser gesellschaftliche Druck zwar noch im Äußeren vorherrscht, aber bisher beinahe alle Menschen, denen ich begegnen durfte, merken, dass es so nicht weiter geht. Alle - egal ob bei der links-ökologischen NGO oder der Pensionskasse für die deutsche Wirtschaft - eint die Sehnsucht, dass sie dieses »immer weiter, schneller, höher« nicht mehr hinnehmen möchten.

»After Work« beschreibt sehr eingängig, wie jede*r Einzelne sich im Alltag ein Stück weit von Leistungsdruck und Konsumzwang lösen kann. Doch reicht diese Bewegung "von unten" deiner Meinung nach für einen umfassenden Wandel aus? Was müsste deiner Meinung nach auf politischer Ebene passieren, um die Rahmenbedingungen des Systems »Arbeit« solidarischer zu gestalten?

Tobi: Ich glaube sehr stark an den Wandel, der von unten und im Bewusstsein der Menschen beginnen darf. Dadurch wird es dann auch institutionell immer mehr Veränderung geben. Es braucht besonders die Möglichkeit, die Existenz immer entkoppelter vom Arbeiten zu bestreiten, etwa durch kostenlose Infrastrukturen wie freier ÖPNV, Zugang zu Land und Freiräumen. Das lässt sich beispielsweise durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen oder noch besser Grundauskommen organisieren. Zudem braucht es als Grundlage einen radikalen Umbau des Bildungssystems, indem nicht mehr für den Arbeitsmarkt Humankapital produziert wird, um der Wirtschaft dienlich zu sein, sondern die Frage gestellt wird: »Welche Fähigkeiten und welches Wissen brauchen und wollen Menschen heute wirklich?« Bereits in jungen Jahren und natürlich auch später braucht es eine freie Entfaltung des eigenen Potentials und nicht die Inwertsetzung für den Arbeitsmarkt.

Wenn jede*r nur Tätigkeiten ausübt, die Spaß machen und sich gut anfühlen, was geschieht mit in der Regel unbeliebten und/oder körperlich sehr belastenden, aber notwendigen Tätigkeiten? Als klassisches Beispiel sei hier die Müllentsorgung genannt.

Tobi: Um es klarzustellen: In einer Post-Work-Gesellschaft wird es weiterhin Tätigkeiten geben, die nicht unmittelbar und jederzeit Freude bereiten. Weiterhin wird es immer Notwendiges geben, was getan werden muss. Die Sozialwissenschaftlerin, Aktivistin und Journalistin Brigitte Kratzwald weist wichtigerweise darauf hin, dass Aufgaben zwischen »Lust und Notwendigkeit« übernommen werden. Die Theologin und Autorin Ina Praetorius spricht an dieser Stelle von der »Wiederentdeckung des Selbstverständlichen«. Das gegenseitige Kümmern wird wieder zum Kern unseres gesellschaftlichen Miteinanders. Genau das ist verloren gegangen und zeigt auch, dass die Welt gestaltbar sowie veränderbar ist.

Wir werden wieder klar haben, warum wir etwas tun und nicht für einen anonymen Markt arbeiten. Ganz konkret zur Müllentsorgung: Zum einen sehen wir, dass Menschen glücklicherweise unterschiedlich sind und demnach auch diverse Interessen haben. Es wird definitiv auch Menschen geben, die sich um die Müllentsorgung kümmern. Aber das werden sie bestimmt nicht mehr 40 Stunden in der Woche tun müssen, sondern sehr viel weniger, weil wir auf dem Weg in eine befreite Gesellschaft sehr viel weniger in Müll, sondern in Kreisläufen denken und handeln werden.

Du hast selbst über zwei Jahre lang nahezu geldfrei gelebt, warst ohne monetäre Entlohnung tätig und trägst diese Erfahrungen heute in das von dir mitgegründete Netzwerk »living utopia« hinein. Welche Ziele verfolgt »living utopia« und in welchen Projekten seid ihr dort momentan aktiv?

Tobi: »living utopia« gestaltet als Netzwerk vor allem Mitmachräume, die tauschlogikfrei, vegan und drogenfrei verwirklicht werden. Unter anderem wird es in diesem Jahr wieder ein »MOVE UTOPIA« geben, ein »Zusammen!Treffen!« mit über 1.000 Menschen für fünf Tage, um sich miteinander zu vernetzen, auszutauschen und Wege in ein neues Miteinander zu gehen. Dort möchten wir neue Selbstverständlichkeiten jenseits von Arbeit, Eigentum, Leistungsdruck, Geld und Arbeit lebendig werden lassen. Außerdem gibt es noch verschiedene befreundete Initiativen oder Kollektive, die daraus entstanden sind und so diese Ideen in die Welt bringen. Zum Beispiel das »BildungsKollektiv imago«, mit dem wir jährlich hunderte Vorträge, Workshops, Lesungen und andere Bildungsaktivitäten an Universitäten, Schulen, auf Kongressen, Camps und Konferenzen gestalten. Alles nach dem Motto »Bildung darf keine Ware sein, aber wenn Du Knatze hast, hau rein!«. Zusätzlich sind wir gerade dabei, einen dauerhaften Mitmachraum in der Nähe von Göttingen aufzubauen, um von dort aktiv sein zu können.

Du gehst nach wie vor keiner klassischen Lohnarbeit nach, lebst aber nicht mehr vollkommen geldfrei. Wie schaffst du es, deine Fixkosten (z.B. Miete) zu decken?

Tobi: Nach den 2,5 Jahren, die ich radikal geldfrei lebte und alle Geldangebote dogmatisch ablehnte, bin ich heute ein wenig pragmatischer. Mit dem »BildungsKollektiv« kommt dann ab und zu Geld rein. Ich bin sehr dankbar, dass ich damit locker meine Krankenversicherung, einen Solibeitrag für den Freiraum und andere Kleinigkeiten finanziell decken kann. Meist kommt sogar durchaus mehr Geld rein, als ich selber für meinen Lebensunterhalt brauche. Unter anderem deswegen bin ich in einer gemeinsamen Ökonomie, wo wir uns ein Konto teilen und Überschüsse weiter verspenden.

Wie dürfen wir uns deinen Alltag vorstellen?

Tobi: So einen richtigen Alltag gibt es bei mir nicht, weil ich viel unterwegs bin. Aber ungefähr könnte der so aussehen:
Zwischen 5 und 7 Uhr stehe ich auf und mache eine kurze Morgenroutine mit Stille, Sport, Lesen, Schreiben und einer Übersicht, welche Aufgaben heute anstehen. Wenn ich nicht auf Vortragsreise unterwegs bin oder gerade eine Aktion stattfindet, bin ich im »Funkenhaus«, dem utopischen Freiraum, den wir gerade gestalten. Dort koche ich dann den Frühstücksbrei für alle, antworte auf zig Mails, organisere die anstehenden Projekte weiter, widme mich ab und zu der ein oder anderen Baustelle hier im Haus. Wenn gerade Montag ist, gibt es auch eine Putzparty, an der ich mich beteiligen würde. Ab und zu gibt es hier auch Plena, um sich selbstbestimmt zu organisieren. Nebenbei gibt es auch das ein oder andere Interview wie jetzt. Und dann ist es auch, schneller als mensch denkt, Abend.

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