Mit eurer gemeinnützigen Organisation LifeTeachUs vermittelt ihr Schüler:innen alltags- und lebensrelevantes Wissen. Naive Frage: Sollten die Schüler:innen dies nicht eigentlich in der Schule lernen?
Ludwig Thiede: Wir sehen die Schule als den richtigen Ort, um alltags- und lebensrelevantes Wissen zu vermitteln, da sie alle Schüler:innen unabhängig von ihrem Hintergrund erreicht. Viele Fächer leisten bereits einen wichtigen Beitrag, doch oft fehlt es an authentischer und lebensnaher Vermittlung. Genau hier setzt LifeTeachUs an: Wir ergänzen den Unterricht mit Menschen aus der Gesellschaft, die aus ihrer eigenen Erfahrung berichten und so die Schule bereichern.
Es geht uns nicht darum, das Schulsystem zu kritisieren oder jemanden für Defizite verantwortlich zu machen. Stattdessen möchten wir gemeinsam mit Schulen, Lehrkräften und Eltern Bildung vielseitiger und lebensnäher gestalten – sei es zur Überbrückung von Ausfallstunden oder als Ergänzung zum regulären Unterricht. Unser Ziel ist es, den Schüler:innen das Wissen und die Sicherheit zu geben, die sie für ein eigenständiges Leben brauchen.
Den Herausforderungen des Bildungssystems konstruktiv begegnen
Fast 60 % der Schüler:innen fühlen sich nicht ausreichend auf das Leben vorbereitet. Seht ihr die Ursache in der hohen Anzahl der Ausfallstunden? Oder gibt es aus eurer Perspektive in der inhaltlichen Gestaltung des Schulsystems ein tieferliegendes Problem?
Ludwig: Die rund eine Million Ausfallstunden pro Woche sind ein Symptom eines überlasteten Schulsystems. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Schulen auf Menschen angewiesen sind – und auch Lehrkräfte haben das Recht, krank zu sein oder zu fehlen. Selbst mit optimaler personeller Ausstattung ist es in einem so dichten System kaum möglich, jede Stunde abzudecken. Gleichzeitig zeigt sich, dass der Lehrplan nicht immer die Vielfalt an lebensrelevanten Themen abdeckt, die Schüler:innen für ein selbstständiges Leben benötigen.
Wir sehen die Ausfallstunden jedoch nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance. Sie ermöglichen es uns, Menschen in die Schule zu bringen, die normalerweise keinen Platz im System haben. Diese bringen nicht nur Wissen, sondern auch wertvolle Lebensvorbereitung ein – Themen, die im klassischen Unterricht oft keinen Raum finden. Mit LifeTeachUs wollen wir diese Lücke schließen, ohne Kritik am Schulsystem zu üben, sondern indem wir vorhandene gesellschaftliche Ressourcen nutzen.
Die positive Rückmeldung der Schulen bestärkt uns, dass LifeTeachUs langfristig als eigenständige, ergänzende Einheit im Bildungssystem etabliert werden kann, um Schüler:innen besser auf das Leben vorzubereiten.
Inwieweit verstärken die hohen Unterrichtsausfallquoten das ohnehin gravierende Problem ungerecht verteilter Bildungs- und sozialer Aufstiegschancen in Deutschland?
Ludwig: Die hohen Unterrichtsausfallquoten verstärken die bestehenden Bildungsungleichheiten in Deutschland erheblich. Kinder aus bildungsnahen Haushalten können Ausfälle oft durch Nachhilfe oder familiäre Unterstützung kompensieren, während Kindern aus weniger privilegierten Familien dieser Rückhalt oft fehlt. Dadurch vergrößern sich die Lücken im Bildungserfolg weiter. Zusätzlich zum Verlust von Fachwissen gehen wichtige soziale Kompetenzen, emotionale Stabilität und die Unterstützung durch Lehrkräfte verloren.
LifeTeachUs setzt genau hier an, um diese Ungleichheiten zu verringern. Unsere LifeLessons bieten Schüler:innen authentische Begegnungen mit Menschen aus der Praxis, die nicht nur Wissen, sondern auch lebensrelevante Kompetenzen vermitteln. Gleichzeitig entlasten wir Lehrkräfte, indem LifeTeacher Ausfallstunden übernehmen, was Freiräume schafft, um sich intensiver auf einzelne Schüler:innen oder andere Klassen zu konzentrieren. So leisten wir einen Beitrag, um das Bildungssystem flexibler und effizienter zu gestalten und langfristig gerechtere Chancen zu schaffen.
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Vielfältig und lebensnah: Die Themen der LifeLessons
Welche Themen umfassen eure LifeLessons? Wie läuft eine typische “Unterrichtsstunde” mit euch ab?
Ludwig: Unsere LifeLessons decken ein breites Themenspektrum ab, das so vielfältig ist wie unsere LifeTeacher. Die Inhalte reichen von Finanzbildung, Gesundheitswissen und Karriereorientierung über Handwerks- und Berufsperspektiven bis hin zu sozialen und globalen Themen. Beispiele sind: „Wie schreibe ich meinen ersten Lebenslauf?“, „Wie gehe ich achtsam mit meinem Geld um?“ oder „Welche Perspektiven bietet eine Ausbildung im Handwerk?“. Alle Themen werden praxisnah und interaktiv gestaltet, um die Schüler:innen zu begeistern und sie optimal auf das Leben vorzubereiten.
Eine typische LifeLesson beginnt, nachdem ein LifeTeacher die Anfrage über unsere App angenommen hat und in der Schule die zuständige Lehrkraft trifft. Im Klassenzimmer steht Interaktion im Mittelpunkt: Die Schüler:innen werden aktiv eingebunden, können Fragen stellen und ihre eigenen Gedanken einbringen. Diese praxisorientierte Herangehensweise macht jede LifeLesson spannend und lebendig. Am Ende der 45-minütigen Stunde, die oft wie im Flug vergeht, gibt es Raum für weitere Fragen, was häufig zu spannenden Diskussionen führt. Abschließend bitten wir die Schüler:innen per QR-Code um Feedback, um unsere LifeLessons kontinuierlich zu verbessern.
Gibt es bestimmte Themen, hinsichtlich derer die Schüler:innen einen ganz besonders hohen Wissensbedarf haben?
Ludwig: Der Wissensbedarf der Schüler:innen ist unglaublich vielfältig, und genau deshalb suchen wir nach einer ebenso vielfältigen Auswahl an LifeTeachern. Es gibt keinen Themenbereich, von dem wir sagen könnten: „Hier sind wir vollständig aufgestellt.“ Der Bedarf ist einfach zu groß – sowohl durch die hohe Zahl an Unterrichtsausfällen als auch durch die breite Nachfrage von Schulseite.
Neben den Themen für weiterführende Schulen, wie finanzielle Bildung, mentale Gesundheit oder berufliche Orientierung, sehen wir auch einen enormen Bedarf in Grundschulen. Bereits hier werden gerne Berufe vorgestellt, doch auch Themen wie Achtsamkeit, Kommunikation, Stressbewältigung oder sogar einfaches Vorlesen sind unglaublich wertvoll.
Gerade das Vorlesen kann eine große Unterstützung sein, da es Kindern nicht nur Freude bereitet, sondern auch ihre Sprachentwicklung und Konzentrationsfähigkeit fördert.
Unsere LifeLessons helfen, diese Lücken zu schließen, aber wir benötigen dafür die Unterstützung von Menschen aus allen Lebensbereichen. Jede Erfahrung zählt, und wir laden alle ein, mit ihren Geschichten und Fähigkeiten Teil von LifeTeachUs zu werden und Schulen zu bereichern.
Wer kann Wissensvermittler:in bei LifeTeachUs werden?
Ludwig: Unsere LifeTeacher sind Menschen aus allen Lebensbereichen – von Handwerker:innen, Ärzt:innen und Künstler:innen bis hin zu Unternehmer:innen und vielen anderen. Was sie alle verbindet, ist die Begeisterung für ihr Thema und die Lust, dieses ehrenamtlich weiterzugeben. Dabei ist es uns besonders wichtig, dass die Inhalte schülergerecht aufbereitet werden. Voraussetzungen sind außerdem ein erweitertes Führungszeugnis sowie die Anmeldung und Qualifizierung über unsere App, die den Prozess unkompliziert macht.
Ein weiterer Vorteil: Bei LifeTeachUs gibt es keine zeitliche Verpflichtung. Wir haben das flexibelste Ehrenamt der Welt erfunden – LifeTeacher können sich genau so einbringen, wie es in ihren Alltag passt. Ob einmal pro Schuljahr oder mehrmals die Woche – jede LifeLesson zählt und trägt dazu bei, Schüler:innen mit wertvollem Wissen zu bereichern.
Welche Rolle spielen digitale Technologien bei LifeTeachUs?
Ludwig: Digitale Technologien spielen eine zentrale Rolle bei LifeTeachUs, insbesondere durch unsere App, die das Herzstück unserer Arbeit ist. Sie hilft uns, LifeTeacher effizient zu qualifizieren und optimal auf ihren Einsatz vorzubereiten – und das skalierbar. Gleichzeitig vermittelt die App bedarfsorientiert die passenden LifeTeacher in die Schulen, basierend auf einer Logik, die der von Uber ähnelt: Schulen erstellen Anfragen mit spezifischen Kriterien, und diese werden an die geeigneten LifeTeacher weitergeleitet. Diese können dann flexibel zu- oder absagen, je nachdem, wie es in ihren Alltag passt.
Neben der Vermittlung vor Ort ermöglichen digitale Technologien auch virtuelle LifeLessons via Videokonferenz. Dadurch können wir Schulen noch flexibler unterstützen und sicherstellen, dass Schüler:innen Zugang zu wertvollem Wissen erhalten – egal, ob vor Ort oder digital.
Bildungspatenschaften für Unternehmen und Organisationen
Welche Kooperationsmöglichkeiten bietet ihr für Unternehmen und Organisationen, die euch unterstützen möchten? Welche Vorteile hat das Engagement für die Partnerunternehmen?
Ludwig: Unternehmen und Organisationen können sich auf ganz unterschiedliche Weise bei uns einbringen. Besonders wichtig ist uns dabei, dass das Engagement der Mitarbeitenden absolut flexibel gestaltet werden kann. Unternehmen können durch uns ihren Mitarbeitenden die Chance geben, etwas Sinnvolles beizutragen, ohne den Arbeitsalltag aus den Augen zu verlieren.
Darüber hinaus profitieren Unternehmen auch von der gesteigerten Sichtbarkeit ihrer Berufe und Branchen. Wer frühzeitig mit jungen Talenten in Kontakt tritt, kann Interesse wecken und nachhaltig Nachwuchs fördern. Gleichzeitig bieten wir die Möglichkeit, alle Einsätze für den Nachhaltigkeits-Bericht zu erfassen, was das Engagement messbar und transparent macht.
Ein zusätzlicher Vorteil, den viele zunächst unterschätzen, ist die Weiterbildung der Mitarbeitenden. Nach zehn LifeLessons vor einer Schulklasse merkt man, wie stark man sich entwickelt hat – denn Schulklassen sind das ehrlichste Publikum, das es gibt. Man lernt, komplexe Themen einfach und verständlich zu vermitteln, und wird sicherer in Präsentationen. Viele LifeTeacher sagen, dass diese Erfahrungen auch im Berufsalltag einen echten Unterschied machen.
Entstehen für die Partnerschulen Kosten, wenn sie sich von euch unterstützen lassen? In Zeiten extrem knapper Budgets ist die Finanzierung sozialer Geschäftsmodelle sicherlich eine herausfordernde Frage. Wie finanziert ihr euer Projekt?
Ludwig: LifeTeachUs ist für Schulen zunächst kostenfrei. Unser Ziel ist es, so vielen Schulen wie möglich die Chance zu geben, von unserem Angebot zu profitieren, ohne dass finanzielle Hürden entstehen. Langfristig wollen wir jedoch als Organisation unabhängig bleiben und unsere Kosten decken, damit das Projekt nachhaltig funktioniert und weiterwachsen kann.
Durch unseren skalierenden Ansatz und das große ehrenamtliche Engagement können wir die Kosten pro Schule sehr gering halten. Viele Schulen verfügen bereits über Budgets, die genau für solche Angebote vorgesehen sind, und wir achten darauf, dass der Mehrwert unserer LifeLessons immer deutlich größer ist als die entstehenden Kosten. Jede Schule spart mit uns nicht nur Zeit und Ressourcen, sondern erhält gleichzeitig ein Angebot, das den Schulalltag aufwertet und Lücken schließt.
Uns ist es wichtig zu betonen: Wir machen das aus Überzeugung und für die gute Sache. LifeTeachUs ist gemeinnützig und so konzipiert, dass die Einnahmen ausschließlich dem Erhalt und Ausbau des Projekts dienen. Damit wollen wir Bildung langfristig vielseitiger und gerechter machen.
Die Geschichte hinter LifeTeachUs
Was ist die Geschichte hinter LifeTeachUs? Wie ist die Idee zur Gründung entstanden?
Ludwig: Die Idee zu LifeTeachUs entstand aus meiner persönlichen Erfahrung. Während meiner Schulzeit in Berlin hatte ich oft das Gefühl, nicht ausreichend auf das Leben vorbereitet zu sein, und wollte etwas daran ändern.
Nach der Schulzeit wurde mir noch deutlicher bewusst, wie stark der Werdegang junger Menschen vom Elternhaus abhängt – ein Zustand, der in der Theorie so nicht sein dürfte. Diese Erkenntnis bestärkte mich noch mehr, LifeTeachUs mit Hanna und Simon zu gründen. Ich will dazu beitragen, Bildung und Chancengerechtigkeit zu fördern, damit alle Kinder – unabhängig von ihrem sozialen oder finanziellen Hintergrund – die gleichen Möglichkeiten erhalten.
Was war bislang euer größter Erfolg, auf den ihr besonders stolz seid?
Ludwig: Unser größter Erfolg ist, dass wir es geschafft haben, in kurzer Zeit über 90 Schulen und fast 3.000 LifeTeacher in Deutschland zu erreichen. Was mich dabei aber besonders stolz macht, ist nicht nur die Zahl, sondern die vielen positiven Rückmeldungen von Schüler:innen, die sagen: „Das hat mir wirklich geholfen!“
Noch beeindruckender wird das Ganze, wenn man bedenkt, dass wir LifeTeachUs in den letzten drei Jahren komplett im Ehrenamt aufgebaut haben – bis vor wenigen Monaten ohne externe Gelder oder die Unterstützung großer Unternehmen. Alles, was wir bisher erreicht haben, entstand aus purer Überzeugung und dem Glauben, dass wir mit unserer Arbeit die Welt ein Stück besser machen können.
Wir haben unseren Platz im Bildungssystem aus eigener Kraft erarbeitet und dabei eine Software entwickelt, die langfristig einen skalierbaren Impact erzeugen wird. Genau das motiviert mich und das ganze Team, weiterzumachen – weil wir wissen, dass wir etwas geschaffen haben, das nachhaltig Bildung und Chancengerechtigkeit verbessern kann.
Wie möchtet ihr euer Projekt künftig weiterentwickeln? Gibt es eine große Zukunftsvision, die euch inspiriert?
Ludwig: Unser Ziel ist es, flächendeckend in Deutschland aktiv zu werden und langfristig auch international zu wachsen. Tatsächlich gibt es bereits erste Anfragen aus dem Ausland, aber unser Fokus liegt aktuell klar auf Deutschland. Hier gibt es noch unglaublich viel zu tun – wenn wir auch nur einen Bruchteil der rund eine Million Ausfallstunden pro Woche abdecken wollen, haben wir noch einen langen Weg vor uns. Doch genau das treibt uns an.
Unsere langfristige Vision ist es, Bildung zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zu machen. Wir möchten erreichen, dass externe Menschen als LifeTeacher ein selbstverständlicher und fester Bestandteil der Schulbildung werden. So wie es heute für viele zum guten Ton gehört, regelmäßig Blut zu spenden, soll es genauso normal werden, sein Lebenswissen und seine Erfahrungen in Schulen weiterzugeben.
Wir träumen davon, dass es irgendwann das Natürlichste der Welt ist, als LifeTeacher Teil dieser Bewegung zu sein – ein Engagement, das sowohl die Gesellschaft stärkt als auch die Demokratie fit für die Zukunft macht.
Über Ludwig Thiede
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