Ihr habt ein Coliving-Projekt namens MOOM gegründet und erprobt damit alternative Formen des Arbeitens und Wohnens. Magst du uns das Konzept von »Coliving« kurz erklären?
Beim Coliving entscheiden sich drei oder mehr nicht verwandte Menschen einen Wohnraum gemeinschaftlich zu teilen. Als ein Upgrade zur bekannten WG geht es im Coliving gezielt um das Schaffen einer lebensbereichernd Wohn-Kultur, die Begegnung und Verbindung ermöglicht und im Einklang mit dem Planeten, also nachhaltig, möglich ist.
Typische Features sind:
- begrenzter privater Raum (1 Zimmer evtl. plus Bad)
- geteilte Gemeinschaftsflächen
- serviceorientierter plug-in-and-play Style - alles ist da, du kannst einfach mit Zahnbürste, ein paar Klamotten und Laptop einziehen und los geht's
- Kosten sind gebündelt: Lebensmittel und Verbrauchsgüter werden bereitgestellt.
An wen richtet sich das Angebot?
An wen richtet sich das Coliving-Projekt? Welche Menschen leben und arbeiten bei euch? Vordergründig hat man ja oft ausschließlich junge, digitale Nomad:innen im Kopf.
Dass die meisten Menschen im Coliving ortsunabhängig arbeiten, verbindet viele Projekte, ja. Und doch hat jeder Coliving Space eine andere Ausrichtung. Bei uns im MOOM Space zum Beispiel liegt der Fokus auf beruflicher und persönlicher Weiterentwicklung. Dafür bieten wir entsprechende Formate, wie das Peer Mentoring und Listening Circles an. Oft kommen Menschen mit einer bestimmten Mission zu uns, wie z.B. eine Website launchen, ein Buch anfangen zu schreiben oder einen Workshop zu planen. Der Austausch mit den Menschen im Coliving wird dabei zur wertvollen Inspirationsquelle. Außerdem laden wir ganz explizit Familien ein, weil wir glauben, dass es gerade für Kinder mehr Integration in Projekte dieser Art braucht. Nur so kann ein Coliving Space wirklich zukunftstauglich sein, finden wir.
Wie lange leben die Menschen im Durchschnitt bei euch? Gibt es eine Art “Mindestaufenthaltsdauer”? Und gibt es auf der anderen Seite auch Menschen, die dauerhaft bei euch leben?
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es mindestens eine Woche braucht, um sich wirklich auf das Erlebnis Coliving einzulassen. Deshalb liegt da auch unsere Mindestaufenthaltsdauer. Im Durchschnitt bleiben Menschen jedoch eher mehrere Monate. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir mit unseren entspannten Strukturen und wenig Ablenkung eher ein »Wohngefühl« als eine kurzfristige »Retreat-Experience« vermitteln.
Den absoluten Sweet Spot der Aufenthaltsdauer sehen wir bei sechs Wochen. Dann sind alle so richtig angekommen, hatten die Gelegenheit, sich ohne Zeitdruck voll zu entspannen oder zu fokussieren. Nach acht Wochen haben die meisten genügend Impulse gesammelt und sind bereit weiterzuziehen.
auerhaft im MOOM Space leben Manuel und Etti als Gastgeber:innen und Umsetzer:innen. Der kleinste »MOOMie«, der Montag bis Freitag im Haus ist, ist der fünfjährige Tammo (Stand 2023).
Außerdem gehören Kater Balu und unsere fünf Hennen zur Crew. Zwei weitere Crewmitglieder wohnen außerhalb.
Landluft statt urbaner Trubel
Warum habt ihr euch für den ländlichen Raum als Ort für euer Projekt entschieden? Was zeichnet den Ort, die Region aus?
Was nehmen wir wahr, wenn wir in der Stadt unsere Wohnung verlassen? Autos, bunte Schilder, Gerüche, viele Menschen mit vielen Zielen, richtig. In der Stadt gibt es so viel, das nach Aufmerksamkeit schreit, was unsere Kapazität, die Details wahrzunehmen, einschränkt. Auf dem Land ist es so viel leichter, das Nervensystem einmal runterzufahren, achtsam zu werden und in uns hinein zu horchen. Anstatt nur auf äußere Impulse zu reagieren, können wir auf dem Land unserer inneren Stimme zuhören. Es wird leichter, mit uns selbst in Verbindung zu kommen. Das ist, finden wir, Voraussetzung für wertvolle Begegnungen miteinander.
Die Mentalität hier in Norddeutschland ist einfach entspannt und bodenständig. Gleichzeitig erleben wir, entgegen dem Stereotyp des eigenbrötlerischen und verschlossenen Norddeutschen, Neugierde und Offenheit.
Unser Standort direkt am Deich lädt dazu ein, den Blick in die Weite schweifen zu lassen und den Wind all das fortwehen zu lassen, was uns nicht mehr dienlich ist.
Welchen Einfluss hat diese Art des Zusammenlebens auf die Menschen, die sich darauf einlassen? Glaubt ihr, dass es uns einfacher fallen kann, mit individuellen und auch großen gesellschaftlichen Krisen umzugehen, wenn wir uns verbundener und sozial eingebettet fühlen?
Ja, das glauben wir. Genau dieser Beitrag ist es, der uns intrinsisch antreibt. Es gibt da dieses Zitat von Howard Thurman, der sagte: »Don't ask yourself what the world needs. Ask yourself what makes you come alive, and go do that, because what the world needs is people who have come alive.«
Das ist das, was wir durch den Austausch im MOOM Space ermöglichen wollen: Lebendigkeit. Das fängt mit dem Raumgeben für Emotionen an und geht bis zur beruflichen Sinnfrage. Wenn wir uns lebendig fühlen, erinnern wir uns an unsere Verbindung zu allem Lebendigen - zueinander, zur Natur, zu diesem Planeten. Dann werden Mitgefühl, Klimaschutz und Frieden zu naheliegenden Zielen.
Coliving und Privatsphäre - ein Widerspruch?
Ein Vorbehalt, den viele Menschen im Zusammenhang mit Gemeinschaftsprojekten haben, ist die Vorstellung, dass man 24 Stunden am Tag zur Interaktion mit Menschen »aufgefordert« sei und Privatsphäre bzw. Rückzugsorte praktisch nicht vorhanden seien. Inwieweit ist diese Befürchtung gerechtfertigt? Ist das Leben in einer Coliving Space nur etwas für sehr extravertierte Persönlichkeiten geeignet?
Im Alleinsein, ein bisschen wie die Winterzeit in der Natur, integrieren wir das, was wir erleben, sammeln neue Kräfte, regenerieren. Deshalb laden wir auch sonntags, zum »Me-Sunday«, ganz explizit die Selbstfürsorge ein. Da gibt es kein Programm, kein gemeinsames Essen. Auch sonst gibt es nur wenig, was »verpflichtend« ist. Dennoch kann die (räumliche) Nähe zu Mitmenschen natürlich intensiv sein und ganz viel anstoßen. Wie ein Accelerator in der Start-up-Szene ein Unternehmen in kurzer Zeit voranbringen kann, laden wir diese Entwicklung im Coliving auf beruflicher und persönlicher Ebene ein - quasi ein Human-Accelerator. Erfahrungsgemäß fühlen sich stille Menschen bei uns genauso wohl wie alle anderen!
Gemeinschaft aktiv gestalten
Eine lebendige Gemeinschaft ist in der Regel ja kein Selbstläufer, sondern möchte aktiv gestaltet werden. Welche Methoden, Formate o.Ä. nutzt ihr dafür?
Absolut, ohne Gestaltung oder auch Hosting, wie wir es nennen, sind wir wieder bei der WG, in der Menschen auch einfach nebeneinander her, statt gemeinsam leben können. Durch Formate wie das wöchentliche Community Meeting, sowie ein tägliches gemeinsames Essen, die Putzparty und einen Listening Circle ermöglichen wir eine Grundstruktur der Begegnung. Wir laden außerdem zum Skill Sharing ein und praktizieren bedürfnisorientierte bzw. gewaltfreie Kommunikation (GFK nach Marshall B. Rosenberg).
Wie wird mit Spannungen und Konflikten innerhalb der Gruppe umgegangen? Welche Kommunikationskultur möchtet ihr gestalten?
Danke für diese super wichtige Frage! Das A und O ist für uns, Spannungen so früh wie möglich zu adressieren. Bei unseren Community Meetings zum Beispiel entsteht dafür ein Raum, in dem wir alle fragen: »Was brauchst du gerade und wo könnte etwas für dich anders laufen, als es ist?«.
Wichtig ist dabei auch, dass jede:r die Verantwortung für die eigenen Gefühle übernimmt. Wir versuchen, Annahmen zu vermeiden – ganz nach dem Motto der »Vier Versprechen« von Don Miguel Ruiz. Dazu gehört es zum Beispiel auch, Recht haben und Schuldzuweisungen loszulassen. Viel wichtiger ist es uns, miteinander eine Sprache für Gefühle und Bedürfnisse, ähnlich einem Muskel, zu trainieren.
Wie bei jedem Training oder Lernprozess gehören »Fehler« dazu und wir erwarten von niemandem Perfektion. Vielmehr sehen wir »Fehler« als »Helfer« (das sind die gleichen Buchstaben, schon mal gemerkt?!), die uns weiterbringen. So wird unsere Community zur großen Übungsfläche, auf der wir alle lernen, achtsam miteinander umzugehen. Wir als Hosts leben das nach bestem Wissen und Gewissen vor und halten damit den Rahmen für unsere Kommunikationskultur. Diese ist nicht nur mega wichtig für unser Zusammenleben, sondern auch der Schlüssel für eine richtig starke, von Wertschätzung und Neugier geprägte Gemeinschaft.
Die Menschen hinter dem Projekt
Wer sind die Menschen hinter MOOM und wie seid ihr auf die Idee gekommen, dieses Projekt ins Leben zu bringen? Theoretisch könnte das Coliving-Konzept - auf einen größeren Maßstab übertragen - zur Lösung zahlreicher gesellschaftlicher Probleme beitragen. Ich denke da z.B. an Alterseinsamkeit und Wohnungsknappheit. Wo seht ihr aktuell noch Hürden für die Initiierung solcher Projekte bzw. welche Herausforderungen habt ihr als schwierig erlebt?
Die Coliving Reise begann 2016. Mitten in der Hamburger Schanze hat Manuel mit vier anderen den ersten Coliving Space Deutschlands gegründet. Den Space gibt es heute noch, allerdings selbstgehostet und mit Fokus auf sozialem Unternehmertum. 2020, pünktlich zur Pandemie, kam für Manuel die Einladung ins Haus geflattert, einen Coliving Space auf dem Land nördlich von Hamburg zu starten. Nach viel Trial und Error ist dort, auf dem Alsenhof, die Gemeinschaftsstruktur entstanden, die auch heute noch besteht. 2022 kam Etti mit ins Boot. Wir merkten dann, dass die Werte des Colivings nicht mit dem langfristigen Gesamtkonzept des Alsenhofs zusammenpassten. Das war 2022 die Geburtsstunde der MOOM Marke und der Umzug an unseren jetzigen Standort.
Außerdem im Team sind noch Nike und Vivien, die aus Lüneburg remote mitwirken. Gemeinsam haben wir, dass wir alle ortsunabhängig arbeiten können und das Leben auf dem Land genießen. Aktuell sind wir zwischen 30 - 37 Jahre alt.
Die Skalierung steht für uns innerhalb des kommenden Jahres 2024 an. Aktuell sind wir auf Immobilien- und Investor:innensuche. Als herausfordernd erleben wir vor allem die Kommunikation darüber, was Coliving wirklich ausmacht. Wir sind noch auf der Suche nach Wegen, das Coliving-Gefühl unabhängig von einem Aufenthalt vor Ort im MOOM Space erlebbar zu machen. Wie das so ist mit Innovationen - neue Wege gehen kann ganz schön beschwerlich und langwierig sein. Deshalb ist unsere wichtigste Zauberzutat auch Geduld.
Was könnt ihr Menschen als Rat mit auf den Weg geben, die gerne gemeinschaftlich leben möchten? Welche ersten Schritte kann ich gehen? Worauf sollte ich achten? Woran erkenne ich, dass ein Ort, eine Gruppe zu mir passt?
Komm in die Umsetzung, probier es aus. Auf der kognitiven Ebene kannst du dir viel erträumen. Der Realitätscheck bringt oft das auf den Tisch, was wirklich wichtig ist. Wenn du bereits Menschen kennst, mit denen du etwas starten willst, mietet euch ein Haus für einen Monat und probiert es aus. Schafft euch damit einen Prototyp und lernt von da aus, was es im nächsten Schritt braucht. Wenn du noch auf der Suche nach Mitmenschen für die Umsetzung bist, können wir die Plattform bring-together.de sehr empfehlen. Wie es sich anfühlt, wenn du DAS Projekt und DIE Menschen gefunden hast, kannst nur Du erkennen - vielleicht durch ein warmes Gefühl, ein Kribbeln, Begeisterung.
Etti ist systemische Coachin und Facilitatorin mit einem Hintergrund in Nachhaltigkeits-
Wissenschaften und seit 2021 im Coliving Kernteam. Ihr Fokus hat sich von der Umwelt zum menschlichen Individuum gewendet, weil sie hier das Potential für die größte Veränderung sieht. »Wenn wir mit uns selbst verbunden sind, wird die Verbindung zueinander und der Natur zum Selbstläufer.«, sagt sie. Im MOOM Space lädt Etti gerne zu Kakao-Ritualen und Tanz ein und sieht sich in den Rollen der Gastgeberin und Versorgerin.
Weil für Manuel ein Leben im Einklang mit den planetaren Ressourcen Priorität hat, kreiert er mit seiner Videoproduktion »Erster Sinn« seit 10 Jahren Marketing-Videos ausschließlich für nachhaltige Organisationen. Er glaubt, dass wir neben den Zukunfts-Organisationen außerdem Räume brauchen, in denen wir uns als Individuen ganzheitlich weiterentwickeln können. MOOM ist deshalb der dritte Coliving Space, den er mit erschafft. Dort ist er Ermutiger, Netzwerker, Host und der mit dem langen Atem.
Neugierig auf eine Coliving-Erfahrung? Hier geht es lang zur Webseite von MOOM.