Seelsorge via WhatsApp für junge Menschen: »Alle Sorgen und Belastungen sind ernst zu nehmen, so ›klein‹ sie einem selbst auch erscheinen!«

Die Hemmschwelle, sich bei seelischen Belastungen Hilfe zu holen, kann insbesondere für Kinder und Jugendliche enorm sein. Das Seelsorgeangebot von krisenchat erreicht junge Menschen über die Kanäle, die sie ohnehin täglich nutzen: Via WhatsApp und SMS. Hier unterstützen erfahrene Krisenberater:innen bei Sorgen, psychischen Belastungen und familiären Problemen. Im Interview sprechen wir mit Amira Blätte, Psychologin bei krisenchat, u.a. über das Konzept von krisenchat, die Menschen hinter dem Projekt sowie Stigmata rund um mentale Gesundheit.

Photo by Priscilla Du Preez on Unsplash
von Charlotte Clarke, 2. April 2024 um 07:00

Konzept von krisenchat

Mit krisenchat habt ihr ein Angebot für junge Menschen ins Leben gerufen, die z.B. in akuten Krisensituationen emotionale Unterstützung benötigen. Magst du uns kurz euer Konzept erklären?

Amira Blätte: Kurz gesagt: Mit uns können Menschen unter 25 Jahren jederzeit per WhatsApp oder SMS über das schreiben, was sie gerade belastet. Sie werden dann mit einem oder einer professionellen Berater:in verbunden und bekommen die Form von Unterstützung, die sie gerade brauchen - vertraulich und kostenfrei.

Wir schauen dann gemeinsam danach, um was es in den Anliegen genau geht und wie wir weiterhelfen können. Wichtig ist uns, unseren Hilfesuchenden »Hilfe zur Selbsthilfe« zu ermöglichen und ihnen nicht »einfach« Tipps an die Hand zu geben.

Darüber hinaus legen wir Wert auf ein Vermitteln in die Versorgungslandschaft, wie spezifische Beratungsangebote oder Therapeut:innen vor Ort, falls nötig und gewollt.

Wie unterscheidet ihr euch von den »klassischen« Seelsorge-Hotlines und warum habt ihr euch bewusst für das Chat-Format entschieden? Gibt es bei Bedarf auch die Möglichkeit, dass Hilfesuchende euch auch telefonisch erreichen und persönlich mit euch sprechen können?

Amira: Als krisenchat im Mai 2020 gegründet wurde, gab es kein vergleichbares Angebot, bei dem man »nur« schreiben, statt reden kann. Das meistgenutzte Medium für die Zielgruppe, die wir hauptsächlich erreichen - das sind 14-jährige - ist WhatsApp. Um es diesen Menschen, denen es oftmals noch super schwer fällt, sich zu öffnen, so einfach wie möglich zu machen, haben wir uns »einfach« in den Raum begeben, den sie eh schon gewohnt sind.

Das heißt, bei uns wird nur miteinander geschrieben, Anrufe oder auch Sprachnachrichten sind nicht möglich. Für manche Menschen scheint sich das einschränkend anzufühlen, andererseits bietet das Miteinander-Schreiben die Möglichkeit, Nachrichten auch mal »sacken zu lassen«, vielleicht auch, sich diese nach der Beratung nochmal durchzulesen und besprochene Übungen und Anlaufstellen auch nach einer Beratung aufrufen zu können.

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Welche Themen und Sorgen werden bei krisenchat angesprochen?

Mit welchen Anliegen oder Sorgen wenden sich die jungen Menschen typischerweise an euch? Was ist mit den »kleinen« (aber situativ gefühlt großen) Sorgen und Schwierigkeiten des Lebens, z.B. Liebeskummer - ist es in solchen Fällen auch legitim, sich an euch zu wenden?

Amira: Da sprichst du etwas ganz Wichtiges an - oftmals ist schon in der ersten Nachricht an uns formuliert, dass sich jemand unsicher ist, ob eine Beratung überhaupt nötig ist oder ob er oder sie nicht damit anderen einen »Platz wegnehmen« würde. Aber: Alle Sorgen und Belastungen sind ernst zu nehmen, so »klein« sie einem selbst auch erscheinen!

Mit über 120.000 Beratungen seit Gründung haben wir wirklich schon über jedes Thema geschrieben - die häufigsten Themengebiete sind aber inhaltlich ziemlich schwer. Dazu gehören depressive Symptomatiken, Suizidgedanken und familiäre Konflikte.

Was ist mit Kindern und Jugendlichen, die kein oder wenig Deutsch sprechen? Ist der krisenchat auch in anderen Sprachen verfügbar?

Amira: Auch mit weniger Deutschkenntnissen können wir versuchen, eine Unterstützung zu sein oder sonst an andere, passendere Beratungsangebote weiter zu vermitteln.

Darüber hinaus haben wir eine Woche nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine im März 2022 eine weitere Beratungsplattform gegründet, auf der Menschen auf ukrainisch und russisch beraten werden können - hier erreichen wir mittlerweile um die 1.500 Beratungen pro Monat.

Welche weiteren Hürden und Barrieren gibt es eurer Erfahrung nach, Seelsorgeangebote nicht in Anspruch zu nehmen und wie versucht ihr, diese so weit wie möglich abzubauen? 

Amira: Da gibt es leider wirklich einige - alles rund um mentale Gesundheit ist in unserer Gesellschaft weiterhin stigmatisiert. Weil auch in der Schule wenig über unsere Psyche, aber auch Fragen wie »Was ist noch normal und ab wann brauche ich Unterstützung?« gesprochen wird, erleben wir, dass sich wahnsinnig viele Hilfesuchende unsicher sind, ob ihr Anliegen überhaupt »schwer« genug ist, um uns zu schreiben. 65% der Menschen, die uns schreiben, geben darüber hinaus an, dass sie vorher noch nie mit jemandem über diese Gedanken gesprochen haben.

Während wir »dankbar« für diejenigen sind, die sich an uns wenden und über so intime Gedanken mit uns schreiben, ist uns bewusst, dass uns wahnsinnig viele Menschen immer noch nicht schreiben, was auf vielschichtige Probleme zurückzuführen ist. Die Schwierigkeiten, die wir in unserer Gesellschaft erleben, wie auch enorme Geschlechterunterschiede bzgl. des Hilfesuchverhaltens, spiegeln sich auch in unserem Chat wider. So schreiben uns aktuell nur knapp 17 % Jungs und junge Männer. Auch deswegen haben wir ein eigenes, internes Projekt, welches sich auf jungenspezifische Ansprache spezialisiert und auf den Kanälen Twitch, Discord und Reddit auftritt, um eine primär männliche Zielgruppe zu erreichen.

Foto von Adem AY auf Unsplash

Wer sind die Berater:innen von krisenchat?

Wer sind die Menschen, die die Nachrichten der Hilfesuchenden beantworten? Haben sie eine spezielle psychologische Ausbildung?

Amira: Genau, alle unsere 450 ehrenamtlichen Berater:innen haben mindestens ein abgeschlossenes Bachelorstudium in Psychologie oder sozialer Arbeit, wobei diese vor dem Start in ihr Ehrenamt noch eine 25-stündige, interne Ausbildung ablegen, in der wir einen Fokus auf unsere junge Zielgruppe legen. Darüber hinaus haben wir aber auch einige Psychotherapeut:innen oder anderes Fachpersonal an Bord, die jahrelange Beratungs- und/oder therapeutische Erfahrung mitbringen.

Wie sieht der Prozess für interessierte Ehrenamtliche aus, die sich als Krisenberater:innen beim krisenchat engagieren möchten? Muss ich dafür vorab bestimmte Voraussetzungen erfüllen? Wie flexibel sind die Krisenberater:innen in Bezug auf ihren zeitlichen Einsatz?

Amira: Vorweg: Wir sind immer auf der Suche nach Menschen, die sich ehrenamtlich bei uns engagieren wollen und sind dankbar für jede:n Bewerber:in. Auf unserer Website findet man alle Informationen und auch Zugangsvoraussetzungen, die dafür relevant sind. Weil die Professionalität unserer Beratung für uns einen sehr hohen Stellenwert hat, setzen wir auch einen entsprechenden akademischen Hintergrund voraus. Damit sichern wir die Qualität unserer Beratung ab.

Eine Chatschicht bei krisenchat dauert zwei Stunden und um ein aktives Ehrenamt auszuführen, müssen mindestens zwei Schichten pro Monat geleistet werden. On top kommt der Austausch mit anderen Berater:innen im Rahmen einer Supervision und freiwilliges Zuschalten bei zahlreichen Workshops oder Fortbildungen. Da die Beratung komplett remote funktioniert, sind unsere Berater:innen ziemlich flexibel in ihrer Zeiteinteilung!

Ich kann mir vorstellen, dass die Krisenberater:innen im Rahmen ihres Engagements auch mit vielen belastenden Situationen konfrontiert werden. Gibt es für die Seelsorger:innen selbst auch eine Art psychologischer Begleitung?

Amira: Das stimmt, bei uns finden viele schwere Themen Raum - gerade, weil unser Angebot so niederschwellig ist. Auch deswegen legen wir Wert auf die »Zugangsvoraussetzungen« unserer Berater:innen und bilden sie intern spezifisch zu den Themen weiter, die bei uns oft im Chat thematisiert werden.

Darüber hinaus ist man nie allein während einer Chatschicht und der Austausch mit anderen Berater:innen ist jederzeit möglich. Hierfür sind beispielsweise eigene Chatkanäle bzw. geschlossene Chaträume eingerichtet, über welche Berater:innen während der Schicht kommunizieren und gegebenenfalls auch um Rat fragen können. 

Einen sicheren und professionellen Rahmen bietet darüber hinaus die Supervision, die monatlich angeboten wird und nach einer gewissen Anzahl an Chatschichten verpflichtend ist, um mögliche, schwierige Chats nachzubesprechen und in den Austausch mit anderen Berater:innen treten zu können. 

Weiter bietet krisenchat interne theoretische sowie praktische Angebote und Workshops zur Stärkung der eigenen Selbstfürsorge und Achtsamkeit an, da wir wissen, dass die Tätigkeit in der Beratung sehr viel abverlangen kann. Ebenso werden regelmäßig Weiterbildungen zu Themenschwerpunkten wie bspw. Suizidalität oder Kindeswohlgefährdung durchgeführt, um unseren Berater:innen, die damit teilweise vorher wenig Berührungspunkte hatten, möglichst viele Werkzeuge mit an die Hand zu geben.

Wie kann ich krisenchat unterstützen?

Welche weiteren Möglichkeiten gibt es (neben des Engagements als Krisenberater:in), euch zu unterstützen?

Amira: krisenchat ist eine NGO und somit angewiesen auf fortlaufende Finanzierungen, beispielsweise in Form von Spenden oder langfristigen Förderungen. Das Aufmerksam machen auf unsere Arbeit in den eigenen Netzwerken, das Vernetzen mit interessanten Partner:innen oder Interessierten ist super wertvoll! Neben unseren ehrenamtlichen Berater:innen haben wir inzwischen auch schon über 100 Festangestellte, was uns sehr stolz macht. Auch hier gibt es also hin und wieder die Möglichkeit, uns in verschiedenen sehr spannenden Rollen hauptberuflich zu unterstützen.

Wie ist die Idee zur Gründung von krisenchat entstanden? 

Amira: Das ist relativ einfach erklärt: Es gab kein vergleichbares Angebot, das junge Menschen so niederschwellig wie möglich in Krisen professionell unterstützt. Als es erste Kontakt-Einschränkungen aufgrund der Corona Pandemie gab, wurde medial auf einmal mehr über die mentale Gesundheit gesprochen. Berichte über häusliche Gewalt häuften sich und unsere Gründer:innen erkannten die Not, professionelle Beratung dahin zu bringen, wo sich junge Menschen aufhielten: In den Whatsapp- und SMS-Chat. Und das mit so wenig Eintrittsbarrieren, wie es nur geht.

Das Angebot ist für die Hilfesuchenden kostenlos. Wie finanziert sich krisenchat?

Amira: Als gemeinnütziges Unternehmen sind wir auf Spenden angewiesen, um langfristig das Beratungsangebot für Kinder und Jugendliche sicher zu stellen und ausbauen zu können. krisenchat finanziert sich unter anderem durch Kooperationen mit Stiftungen, Krankenkassen und anderen Förderern.

Darüber hinaus sind wir für jede Spenden von Privatpersonen dankbar. Jeder Cent hilft uns, Kindern und Jugendlichen zu helfen!

In welche Richtung möchtet ihr krisenchat langfristig weiterentwickeln und welche Projekte habt ihr in nächster Zeit geplant?

Amira: Unser langfristiges Ziel ist es, allen jungen Menschen die Hilfe anbieten zu können, die sie brauchen. Dafür ist es uns sehr wichtig, auf Social Media zu entstigmatisieren, aufzuklären und grundlegend klar zu machen: Es ist okay, sich nicht gut zu fühlen, niemand muss damit alleine bleiben und du darfst mit anderen darüber sprechen. Und auch professionelle Hilfsangebote, wie unseres, darf man anschreiben und um Unterstützung bitten - dafür muss auch kein Problem erst »groß genug« werden.

Weiter müssen wir dafür unsere Beratungskapazitäten ausbauen, was eben an Finanzierungen geknüpft ist. Aktuell müssen wir knapp 40 % der Nachrichtenanfragen, die uns vor allem abends und am Wochenende erreichen, vertrösten - da wir nicht genug Kapazitäten haben, alle Chatanfragen abzudecken.

© Amira Blätte

Über Amira Blätte

Während meines Masterstudiums in Psychologie habe ich bemerkt, dass ich all den theoretischen Input, den ich in mir trage, auch für »wertvolleres« als Klausuren nutzen möchte und habe so zu der ehrenamtlichen Arbeit in unserer Beratung gefunden - das war vor knapp zwei Jahren. Viele Chats mit Hilfesuchenden später habe ich dann eine Ausschreibung für eine psychologische Redakteurin im Marketing-Team entdeckt und bin seitdem für unseren YouTube-Kanal verantwortlich.

Im Rahmen unserer Videos kann ich einerseits mein Wissen an eine junge Zielgruppe weitergeben, aber andererseits auch immer und immer wieder offen kommunizieren, wie wichtig es ist, sich Unterstützung von außen zu holen, wenn jemand belastet ist oder nicht weiter weiß - wie zum Beispiel in unserem Chat.

Mein Team arbeitet täglich daran, Stigmata rund um die mentale Gesundheit abzubauen und ich könnte nicht glücklicher über meinen Job sein, wenn ich in den Kommentaren »Danke Amira, dass du darüber sprichst, ich hab michs bisher nicht getraut« lese.

Du möchtest mehr erfahren? Hier geht es zur Webseite von krisenchat.

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