Dieser Gastartikel wurde verfasst von Krischan Ostenrath, Chefredakteur des WILA Arbeitsmarkt und Koordinator des Netzwerk Grüne Arbeitswelt.
Seit einiger Zeit diskutieren Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Unternehmen verstärkt über die Dimensionen der Bioökonomie. In Wissenschaftssendungen werden innovative Produktionsverfahren oder die Potenziale biologischer Materialien vorgestellt, Ministerien und Behörden rufen Milliardenbeträge zur Förderung der Bioökonomie auf, Unternehmen träumen von der rosigen Zukunft neuer und alter Wirtschaftszweige. Dabei ist schon die Frage, was sich unter dem aktuellen Label »Bioökonomie« eigentlich verbirgt, gar nicht so einfach zu beantworten. Natürlich interessieren sich Jobsuchende nicht für Definitionsfragen. Im Falle der Bioökonomie ist diese Frage aber gar nicht so abwegig. Denn wenn die Europäische Kommission von 17,5 Mio. Beschäftigen in der Bioökonomie und einem Plus von einer weiteren Million bis 2030 ausgeht, dann könnte man als potenziell Beschäftigte*r ja doch hellhörig werden. Was also steckt hinter der neuen Dachmarke, unter der die europäischen Politiker*innen ansehnliche Förderprogramme packen und der auch das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung ein eigenes Wissenschaftsjahr widmet?
Hinter dem Konzept einer auf biologischen Ressourcen und Kreisläufen basierenden Wirtschaft stecken zunächst einmal zahlreiche und sehr heterogene Produktions- und Wertschöpfungsketten, die sich wiederum in Branchen sortieren lassen (s. Abb. 1). Davon sind beileibe nicht alle neu. Im Gegenteil, die illustren Beispiele von Forscher*innen, die aus Algen Biotreibstoffe generieren oder aus Löwenzahn Autoreifen entwickeln, beschreiben eindeutig eine Minderheit. Das Gros der Beschäftigten ist in arrivierten Branchen wie der Land- und Forstwirtschaft, der Nahrungs- und Getränkeindustrie oder auch der Holz-, Textil- und Papierproduktion beschäftigt. Das heißt natürlich nicht, dass es in diesen Branchen keine Innovationen oder Entwicklungen in Richtung Nachhaltigkeit geben würde. Aber weite Teile der Bioökonomie sind nicht wirklich »neu«, sondern eigentlich schon Hunderte, wenn nicht gar Tausende Jahre alt. Dasselbe gilt logischerweise auch für die entsprechenden Berufsbilder: Landwirt*innen und Forstwirt*innen gibt es seit Menschengedenken. Bäcker*innen, Fleischer*innen und Brauer*innen natürlich auch. Und Schreiner*innen oder Schneider*innen erst recht.
Innovativ und im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung bedeutsam wird das Schlagwort Bioökonomie aber dann, wenn man es mit den technologischen Revolutionen und wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte verbindet. Denn erst hier ergeben sich dann Beschäftigungsmöglichkeiten, die die biobasierten Produktionsgrundlagen mit zukunftsfähigen Berufsfeldern zusammenbringen. Wenn man mit Bioökonomie mehr meint als nur das Branding längst bestehender Branchen und Berufsfelder, dann sind damit vor allem ihre Möglichkeiten gemeint. Nämlich die Chance, von natürlichen Mechanismen und Systemen zu lernen. Die Chance, in natürlichen Kreisläufen zu denken und zu handeln. Die Chance, die natürlichen pflanzenbasierten Grundlagen schonend zu nutzen. Und damit letztlich die Chance für Millionen von Beschäftigten, ihren Beruf als nachhaltig zu erleben.
Derzeit liegt der Beschäftigungsstand der Bioökonomie in Deutschland bei etwa 4,5 Mio. Beschäftigten (s. Abb. 2). Nun wird sich der überwältigende Anteil dieser Beschäftigten bislang gar nicht als Teil einer Bioökonomie verstehen, dafür ist dieses Label schlicht und einfach zu neu und unbekannt. Aber genau diese Beschäftigten haben – das entsprechende Bewusstsein für nachhaltige Wirtschaftsweisen vorausgesetzt – das Potenzial, eine kreislaufbasierte, rohstoffschonende und regenerative Ökonomie aufzubauen. Und das auch noch in Regionen und mit Beschäftigungsgruppen, die man eigentlich überhaupt nicht als Innovationstreiber wahrnimmt. Wegen der Abhängigkeit von biogenen Ressourcen ist ein erheblicher Teil der Wertschöpfungsketten in strukturschwachen, ländlichen Gebieten angesiedelt. Der quantitativ bedeutsamste Teil der Beschäftigten ist grundständig qualifiziert, zum Teil sogar »nur« angelernt. Damit kann die Bioökonomie gerade auch denjenigen Beschäftigungs- und Zukunftsperspektiven bieten, die nicht ihr Studium in der Tasche haben und es auf dem Arbeitsmarkt durchaus etwas schwerer haben.
Quelle: Forschungsbericht des Fachbereichs Agrarwirtschaft Soest Nr. 51
Entscheidend ist – und das ist vom ehemaligen Bioökonomierat oder auch dem kritischen »Aktionsforum Bioökonomie« immer wieder gefordert worden – dass eine wirklich offene und ehrliche Diskussion mit den Nachhaltigkeitsfragen rund um die Bioökonomie vorangetrieben wird. Denn machen wir uns nichts vor: Die industrielle Landwirtschaft oder Tierhaltung mag ein Teil der Bioökonomie sein, besonders umwelt- oder tierfreundlich ist sie nun wirklich nicht. Auch die Bioenergie ist definitionsgemäß ein gewichtiger Akteur der Bioenergie, aber einschlägige Monokulturen sog. »Energiepflanzen« können keine Antwort auf Zukunftsfragen sein. Oder so begrüßenswert der Trend zum Konsum nachhaltig produzierter Lebensmittel oder Kosmetika auch ist – wenn die Produkte über den halben Globus transportiert werden müssen, gibt es auch hier ein ungelöstes Nachhaltigkeitsproblem. Diese und ähnliche Fragen sind sicherlich nicht einfach zu lösen. Sie zeigen aber deutlich, dass die deutsche, europäische und globale Bioökonomie nicht per se nachhaltig und zukunftsfähig ist.
Genau das gilt natürlich auch für die dahinter liegenden Ausbildungs- und Studienberufe. Sie alle haben – wie eigentlich sämtliche Berufsfelder – das Zeug dazu, unsere Wirtschaft ressourcensensibler und kreislauforientierter zu machen. Aber man kann mit diesen »Bioökonomie-Berufen« auch das genaue Gegenteil erreichen. Deshalb ist es einerseits völlig richtig, wenn das Thema »Nachwuchs und Qualifikation fördern« ein explizites Ziel der bundesdeutschen Forschungsförderung zur Bioökonomie ist. Denn eine wachsende Bioökonomie braucht die gesteigerte Aufmerksamkeit potenzieller Fachkräfte für die zahlreichen und unterschiedlichen Ausbildungs- und Studienwege. Und sie braucht – darauf hat zuletzt auch das Europäische Projekt »AllThings.BioPro« deutlich hingewiesen – durchaus spezifische Qualifikationsmuster, beispielweise fachübergreifende und interdisziplinäre Offenheit, systematisches Denken und die Fähigkeit, hochinnovative Prozesse zu überwachen und zu steuern. Insoweit ist es sehr nachvollziehbar, wenn im aktuellen »Wissenschaftsjahr 2021« zum Thema Bioökonomie zahlreiche Projekte auch Jugendliche in der Berufsorientierungsphase für die innovativen und zukunftsweisenden Tätigkeitsfelder ansprechen und sensibilisieren.
Andererseits aber darf niemand der Versuchung erliegen, hier ein schlichtes Berufe-Marketing zu versuchen. Das ist schon in der Berufsorientierung außerhalb der Bioökonomie ein gravierender Fehler, denn eine seriöse Berufsorientierung muss mehr sagen können, als dass der beworbene Beruf der spannendste, bestbezahlte und überhaupt geilste Job der Welt ist. Und speziell in der Berufsorientierung zur Bioökonomie wird man den obigen Nachhaltigkeitskonflikten in besonderer Weise Rechnung tragen müssen. Eben deshalb wird auch ein laufendes Vorhaben unter dem provozierenden Titel »Jobs ohne Kohle? Kommunikation nachhaltiger Berufe in der Bioökonomie« im Rahmen des Wissenschaftsjahres 2021 gefördert. Denn zur Wahrheit der bioökonomischen Berufsfelder gehört es eben auch, dass keines der oben skizzierten Branchen wirklich frei von Nachhaltigkeitskonflikten ist. Und damit sind es die hier Beschäftigten eben auch nicht.
Wenn also in diesem Vorhaben, bis zum Ende des Jahres 2021 fünfzehn Dialogformate zwischen Jugendlichen und jungen Fachkräften der Bioökonomie durchgeführt werden, dann geschieht das in zweierlei Hinsicht: Einerseits braucht es zunächst einmal authentische Einblicke in die Berufsbiographie und Tätigkeitsfelder der bioökonomisch Beschäftigten. Denn nur den wenigsten jungen Menschen dürfte die Vielfalt der Berufsfelder wirklich vertraut sein. Im Gegenteil: Erfahrungsgemäß orientieren sich selbst die engagiertesten Fridays-for-Future-Aktivist*innen leider an den konventionellen Berufsmustern ihrer Eltern, den medialen Geschichten einer »erfolgreichen« Karriere und dem, was man ihnen in den standardisierten schulischen Berufsorientierungseinheiten üblicherweise anbietet. Dass es aber auch in der ökologischen Landwirtschaft, im nachhaltigen Konsum oder in der bioökonomischen Forschung ernstzunehmende, auskömmliche und zukunftsfähige Arbeitsplätze gibt, muss zunächst einmal an die Fachkräfte von morgen herangetragen werden. Gleichzeitig aber müssen diese Veranstaltungen auch vermitteln, dass diese Arbeitsplätze nicht frei von Nachhaltigkeitskonflikten sind. Denn auch in der Produktion von Öko-Textilien stellt sich die Frage nach ihren Ausgangsprodukten und Logistikketten. Auch in den modernsten Recyclingbetrieben bleibt die Grundfrage unbeantwortet, ob die Vermeidung von Abfällen nicht deutlich sinnvoller wäre als ihre Verwertung. Und auch eine Forstwirtschaft mit den höchsten Zertifizierungen und Standards kann sich um die Frage nicht herumdrücken, dass der Wald nicht nur ökologische Funktionen, sondern eben auch eine wirtschaftliche Funktion hat. Beide Dimensionen sind zwei Seiten derselben Medaille. So wichtig der Hinweis auf die unbekannten Beschäftigungsmöglichkeiten der Bioökonomie auch ist, so offen muss eine bioökonomische Berufsorientierung auch über die immanenten Nachhaltigkeitskonflikte sprechen.
Über Krischan Ostenrath
Krischan Ostenrath ist Chefredakteur des WILA Arbeitsmarkt und Koordinator des Netzwerk Grüne Arbeitswelt. Aktuell führt sein Team im Rahmen des Wissenschaftsjahres 2021 das Projekt »Jobs ohne Kohle? Kommunikation nachhaltiger Berufe in der Bioökonomie« durch.
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