Mit »Selbstbestimmt Studieren« habt ihr eine Initiative ins Leben gerufen, die Menschen mit Hilfe von Bildung befähigen soll, aktive Transformator:innen für eine zukunftsfähige Gesellschaft zu werden. An welchen Stellen versagt dabei das klassische Bildungssystem? Wo genau seht ihr Fragen, die bislang nicht beantwortet werden, oder Fähigkeiten, die für die Zukunft essentiell sind, aber nicht ausreichend vermittelt werden?
Simon Schill: Ich hatte Spaß in der Schule und habe immer gern gelernt. Dennoch, wenn Ich heute zurückschaue, stellt sich mir die Frage: Wie oft habe Ich etwas gemacht, das Ich wirklich wollte? Etwas, das aus einem persönlichen Impuls heraus kam?
In der Schule entscheide grundlegend nicht Ich, was gelernt wird. Inhalte sind bereits vorgegeben. Ich glaube, daraus resultieren u.a. zwei Probleme:
Ich merke, dass es mir sehr schwerfällt, Projekte aus eigener Initiative, aus mir selbst heraus zu verfolgen. Das habe Ich ja auch nicht wirklich gelernt. Mehr noch – Ich glaube, durch die Fremdziele, die Ich in der Schule verfolgte, habe Ich fast nie einen wirklichen Erfolg erlebt. Sicher, meine gute Leistung brachte mir Lob, was mir gefiel, und im Idealfall hatte Ich etwas gelernt, aber Ich hatte keinen konkreten, persönlichen Erfolg, wie Ich ihn vielleicht gehabt hätte, wenn Ich eine persönliche Frage beantwortet hätte.
Ich merke auch, dass es mir schwer fällt, mir die nötige Zeit für Dinge zu nehmen. Gut, Ich habe viel zu tun – Ich glaube aber, dass auch hier schlechte Gewohnheiten aus meiner Schulzeit eine Rolle spielen. Es wird einfach sehr viel Stoff behandelt und um das – wenn auch nicht ideell so zumindest praktisch – gesetzte Ziel guter Prüfungsergebnisse zu erreichen, konnte Ich nicht einfach ein paar wenige Themen priorisieren und versuchen, diese wirklich zu durchdringen, sondern war quasi gezwungen, alles so weit zu lernen, dass es bei der Prüfung noch da ist. Mittlerweile ist davon nicht mehr viel da.
An Universitäten haben Student:innen zwar mehr Spielraum, grundsätzlich finden sich hier aber die gleichen Probleme.
Du suchst nach einem Job mit Sinn?
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In unserem Studiengang mache Ich die Erfahrung, etwas aus mir heraus zu verfolgen und mir die Zeit dafür zu nehmen – zum ersten Mal in dieser Radikalität.
Ich kann hier einen Schritt zurücktreten und schauen, was will Ich eigentlich, um dann wieder nach vorne zu treten und das in die Gruppe zu tragen. Gleichzeitig nehme Ich die Impulse meiner Mitmenschen auf und wir müssen lernen, diese unterschiedlichen Impulse zu hören und damit umzugehen. Ich kann das noch nicht so gut, aber immerhin unterstützt dieses System mich dabei, diese Fähigkeiten, die Ich für grundlegend auf dem Weg in eine bessere Zukunft halte, zu entwickeln.
Mit welchen inhaltlichen Schwerpunkten beschäftigen sich die Studierenden im Rahmen des Studienganges »Philosophie & Gesellschaftsgestaltung« und wie ist das Studium aufgebaut? Was sind die bedeutendsten Unterschiede im Vergleich zum Studium an einer »regulären« Hochschule?
Simon: Das Studium besteht aus drei thematischen Strängen, denen konkretere Module zugeordnet sind. In den Modulen finden jeweils Seminare statt, deren Thema und Dozierende in verschiedenen Gruppenprozessen gefunden werden.
Im ersten Strang, Philosophie, werden u.a. philosophische Grundlagen erarbeitet, aber auch menschliche Grundfragen, Bildungsprozesse sowie gesellschaftliche Fragen aus philosophischer Perspektive betrachtet.
Der zweite Strang, Gesellschaft, behandelt gesellschaftliche Fragen und Grundprobleme der Gegenwart. So wurden z.B. in vergangenen Seminaren Themen wie Klimagerechtigkeit, Queerfeminismus oder Rechtsextremismus behandelt.
Im dritten Strang, Projektmanagement, bewegen wir die Frage, wie Projekte erfolgreich gestartet und am Leben gehalten werden können. Außerdem gibt es hier auch verschiedene Module zum Verfolgen eigener Projekte in einem bestimmten Rahmen.
Ich selbst habe keine Erfahrung an Unis etc. Ein Freund aus meinem Jahrgang, der parallel »regulär« studiert, meinte, ein Hauptunterschied zum »regulären« Studium sei die tiefe Beschäftigung mit Themen gleich von Beginn an. Auch erlaubt die kleine Gruppengröße unseres Studiengangs eine intime Arbeitsatmosphäre und fruchtbare Diskussionen. Seminare sind stark durch den Aspekt der persönlichen Erfahrung, Denkwege und den konkreten Bezug zum eigenen Alltag geprägt, ohne dabei größere Zusammenhänge auszublenden.
Die Philosophie hat oftmals den Ruf, eher »theoretisch« und »abstrakt« zu sein. Wie kann Philosophie, so wie ihr sie versteht, die Basis dafür legen, ganz aktiv und praktisch in der Welt wirksam zu werden?
Simon: Die Welt und unsere Leben sind weit und komplex, dem sind wir immer deutlicher ausgesetzt. Mir für Philosophie in dieser Form Zeit zu nehmen, erlaubt mir, ein Stück weit aus dem Chaos oder der starren Ordnung des Alltags herauszutreten und Fragen, die Ich für wichtig halte, kritisch zu verfolgen. So legt sie eine Basis für mein Handeln.
Etwas poetischer: Ich glaube, in der Philosophie drückt sich eine gewisse Weltenliebe aus. Ich bin fasziniert von dem, was mich umgibt und habe viele Fragen. Diese fragende Beziehung zur Welt zu erhalten, halte Ich für sehr wichtig.
Dieses Gedicht habe Ich in einem Seminar zum wissenschaftlichen Arbeiten geschrieben:
Philosophie – wer bist Du?
Ich bin geboren aus Weltenliebe,
lebe in der Frage und
sterbe in der Antwort.
Immer wieder.
Wer sind die Dozierenden und Lehrenden des Studienganges? Wie werden diese ausgewählt und was ist das Besondere an den didaktischen Methoden und dem Austausch zwischen Lehrenden und Studierenden?
Simon: Alle können Dozierende vorschlagen, die gewisse formale Qualifikationen erfüllen müssen, und dann wird sich auf Personen geeinigt und diese werden angefragt. Dafür gibt es kein Protokoll, da ist viel Eigenverantwortung der Seminarteilnehmer:innen gefragt. Es gibt auch einige Dozierende, die immer wieder Seminare bei uns geben, wovon viele aus dem Team der Kueser Akademie kommen, die den Studiengang auch betreibt.
Vor einem Seminar stehen Dozierende und Student:innen im Austausch über die konkreten Inhalte des Seminars.
Die konkret in einem Seminar angewandten Methoden variieren dementsprechend, generell liegt aber ein Fokus auf eigenen, aktiven Erkenntnisprozessen sowie einem lebendigen Austausch während des Seminars.
Handelt es sich um einen reinen Präsenzstudiengang oder ist auch eine Online-Teilnahme möglich? Kann man bei euch auch neben dem Beruf studieren oder ist eine ständige Anwesenheit vor Ort vorgesehen?
Simon: Eine Online-Teilnahme ist normalerweise nicht vorgesehen, da sich aus unserer besonderen Präsenzform eine intensive und fruchtbare Art des gemeinsamen Studierens ergibt.
Das Studium hat eine Blockstruktur, d.h., Ich wähle Seminarblöcke von je drei Tagen, für die Ich zum Seminarort Sonnerden anreise. Seminare liegen oft so beisammen, dass man für mehrere auf einmal anreisen kann. Für die Seminarzeit leben wir also gemeinsam in einem Haus, was eine ganz besondere Atmosphäre schafft, um in ein Thema einzutauchen. Einige Menschen wohnen auch außerhalb der Seminare in Sonnerden; Ich wohne jedoch zwischen den Seminaren woanders. Ich erlebe diese Kombination von intensivem Austausch und solitärer Vor- und Nachbereitung als sehr fruchtbar. Außerdem erlaubt mir die Blockstruktur eine flexiblere Zeitplanung, wodurch Ich gut persönliche Projekte verfolgen kann. Es ist möglich, in Voll- oder Teilzeit zu studieren, mit entsprechend weniger Seminarblöcken in Teilzeit.
Wie sehen die Prüfungsformate aus? Geht ihr mit der Bewertung von Leistungen anders um als es an klassischen Hochschulen der Fall ist?
Simon: Unser Studiengang strebt eine Bachelor-Akkreditierung an, d.h. auch wir verwenden bereits existierende, anerkannte Prüfungsformen. Es handelt sich dabei aber immer um Formen der persönlichen Vertiefung, wir haben keine zentralen Klausuren. Dadurch ist das Ganze wohl etwas entspannter als andernorts, da wir recht frei sind, wann wir unsere Vertiefungsarbeiten schreiben.
Ich denke, der wesentliche Unterschied liegt aber in der Kultur. Die »Prüfungen« werden z.B. bewusst nicht als solche bezeichnet, sondern eben »Vertiefungsarbeiten« genannt. Während eine vorgegebene Klausur mich gewissermaßen dazu drängt, mein Lernverhalten dieser Form anzupassen, indem es z.B. eben ein Lernverhalten ist, drehen wir diese Richtung eher um. Zuerst steht die Frage »Was beschäftigt mich?« und dann »Welche Prüfungsform passt dazu?«
Ist der Studienabschluss offiziell anerkannt? Was sind mögliche Tätigkeitsfelder und Berufsperspektiven für Absolvent:innen?
Simon: Der Studiengang läuft derzeit in der Aufbauphase als Zertifikatsstudiengang auf Bachelor-Niveau. Wir sind in Verhandlung mit einer Hochschule, um den Studiengang in Kooperation zu akkreditieren.
Berufsperspektiven sind:
- Beratung für gesellschaftliche Innovationen in Verbänden und Kommunen
- Außerschulische Organisationen im Bereich politische Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung
- Erwachsenenbildung
- Social Entrepreneurship
- Zivilgesellschaftliche Vereine und Organisationen
- Qualifikation für einen Master-Studiengang, Wissenschaftlicher Nachwuchs
Welche Voraussetzungen muss ich für die Bewerbung auf einen Studienplatz erfüllen und wie geht ihr mit dem Thema Chancengleichheit um (z.B. im Falle von Menschen, die sich die Semestergebühren nicht leisten können)?
Simon: Für uns zählt die Persönlichkeit, das Interesse und das Bildungsanliegen. Eine Selbstständigkeit sowohl im Denken als auch in der Organisation ist wichtig, aber diese entwickelt sich natürlich auch während des Studiums. Grundsätzlich sollte die Lust zum Studieren da sein. Auch wenn wir vieles anders machen, ist dies nach wie vor ein Studiengang, und nicht zum Beispiel eine Ausbildung. Es sollte auch eine Bereitschaft zur Mitarbeit bei der Organisation des Studiengangs geben, allerdings kann der Arbeitsbeitrag sehr unterschiedlich ausfallen. Ich zum Beispiel habe das Studium erst dieses Semester angefangen und nur sehr kleine Aufgaben übernommen, da Ich erstmal in diesen neuen Alltag finden wollte.
Gemäß Hochschulgesetz können auch Personen mit einem Meister-Abschluss oder einer Berufsausbildung und Berufserfahrung bei uns studieren. Wer keinen Studienabschluss anstrebt, kann bei entsprechender Eignung als Zertifikatsstudierende:r auch ohne Hochschulzugangsberechtigung mitmachen.
Ich wünsche mir auf jeden Fall mehr Diversität in unserer Gruppe. Ein Schritt dorthin ist unser »Soli-Stipendien«-Modell, welches dieses Semester zum ersten Mal ausprobiert wurde. Das Modell ist bedarfsorientiert und soll bei Bedarf Menschen nicht nur die Semestergebühren finanzieren, sondern auch andere Ausgaben übernehmen, mit dem Ziel, allen zu ermöglichen, sich so viel Zeit für das Studium zu nehmen, wie sie gerne möchten. Wir werben das Geld dafür vor allem über Stiftungen ein. Wir wollen damit auch unseren Umgang mit Geld transformieren und zu einem ehrlichen und reflexiven Austausch untereinander kommen.
Welche Menschen stecken hinter dem Projekt? Wie sind die Initiator:innen auf die Idee gekommen, einen eigenen Studiengang ins Leben zu rufen?
Simon: Viele Menschen stehen hinter dem Projekt. Natürlich die Student:innen und Dozierenden, der Verein Selbstbestimmt Studieren e.V. und das Philosophische Seminar der Kueser Akademie, aber auch viele liebe Menschen, die uns in verschiedenster Weise unterstützen.
Allen oben Genannten bin Ich auf jeden Fall sehr dankbar, dass sie mir dieses Studium mit ermöglichen.
Der ursprünglichste Impuls zur Gründung des Studiengangs kam von einer Gruppe junger Menschen, die sich schon länger intensiv mit dem Thema Schulbildung auseinandergesetzt hatten und radikale Kritik am Bildungssystem übten. Da für immer mehr von ihnen das Thema Studium die Schulbildung im eigenen Leben ablöste, wurde die Gründung eines eigenen Studiengangs gewissermaßen zur Notwendigkeit.
Ich möchte die Welt und die, die in ihr leben, kennenlernen, sie besser verstehen. Ich möchte mein Gelerntes gerne weiter-teilen. In Geschichten, anderen Kunstformen, aber z.T. auch in direkten, sachlichen Formen. Das Studium erlaubt mir, all das zu verfolgen.
Ich bin seit einem Semester dabei und Teil der Arbeitsgruppen Awareness und Öffentlichkeitsarbeit.
Ich schreibe »Ich« groß, da Ich alle Personalpronomen großschreibe, aus Respekt vor meinen Mitmenschen und mir.
Neugierig geworden? Hier geht es lang zur Webseite von Selbstbestimmt Studieren.
Zahlreiche Studiengänge mit Bezug zu verschiedensten Schwerpunktthemen innerhalb der Nachhaltigkeit findest du in unserem Studienführer. Schau mal rein uns lass dich inspirieren!