Nachhaltiges Reisen: »Solange wir keine gesetzlichen Vorgaben in diesem Bereich haben, müssen wir die Entscheidungen mit dem eigenen Wertekompass abgleichen.«

Darf ich als nachhaltigkeitsbewusste Person überhaupt noch fliegen? Wie kann ich Menschen in fremden Ländern wirklich unterstützen und deren Kultur authentisch kennenlernen? Und sind Freiwilligeneinsätze im Ausland doch nur eine selbstgefällige Form des »Volontourismus«? Solche Fragen haben unsere Interviewpartnerin Kathrin David während ihrer Weltreise beschäftigt, weshalb sie kurzerhand »give and grow« gegründet hat - eine Plattform, die über nachhaltiges Reisen und seriöse Freiwilligeneinsätze aufklärt.
Landkarte, auf der eine Kamera, ein Rucksacht, ein Notizbuch mit Stift und verschiedene Reiseführer liegen
Photo by Annie Spratt on Unsplash.com
von Jana Hansl, 7. März 2022 um 16:12

Was genau ist give and grow und wer sind die Menschen dahinter? Wie seid ihr auf die Idee gekommen, give and grow zu gründen?

Kathrin David: give & grow ist eine digitale Learning-Plattform, auf der Reisende und Expert*innen zusammenkommen, um rund um die Themen nachhaltiges Reisen und verantwortungsvolles Volunteering spannende Erfahrungen und praktisches Wissen zu vermitteln.

Die Idee ist auf Reisen entstanden, als wir selbst 555 Tage lang die Welt erkundet haben. Damals wollte ich (Kathrin David) weltweit nachhaltige Projekte interviewen, um in meinem Podcast über die tollen Lösungen zu berichten und das positive Bild von Nachhaltigkeit zu stärken. In jedem Gespräch haben wir so unglaublich viel gelernt und waren so inspiriert, dass wir uns gefragt haben: Warum fliegen so viele tolle Projekte unter dem Radar? Wieso gibt es so viel wertvolles Wissen, das nicht weitergetragen wird? Und weshalb läuft in der Reise- und Volunteering-Industrie eigentlich so viel verkehrt?

Diese Gedanken haben wir mitgenommen und sind (mit dem besten Timing) 2020 mit der Idee gestartet, die Projekte, die wir besucht haben, auf einer Plattform vorzustellen. In der Pandemie war es kaum möglich zu reisen und wir haben die Zeit genutzt, um uns zu fragen:

Wollen wir wirklich ein Tourismusanbieter sein oder wollen wir aufklären und Wissen vermitteln? Reisen werden ja ohnehin schon zur Genüge verkauft und wir glauben, dass wir durchaus nachhaltige und verantwortungsvolle Angebote verkaufen könnten, aber das ändert unter Umständen nichts an unserem Reiseverhalten.

Statt also Reisen und Projekte an die Leute zu bringen, setzen wir auf Wissensvermittlung und Educational Empowerment - denn wir glauben, wenn du Menschen Tools und Wissen an die Hand gibst, treffen sie eigenständig nachhaltige und verantwortungsvolle Entscheidungen.

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Was läuft falsch in der Reise- und Volunteering-Industrie? Wie sieht hingegen verantwortungsvolles Volunteering aus?

Kathrin: Sowohl die Reise-, als auch die Volunteering-Industrie richtet sich stark nach dem Wunsch der Konsument*innen. Sei es der Abenteuerurlaub kombiniert mit Wildkatzen-Kuscheln in Südafrika oder der Englischunterricht für Kinder in Nepal. Reisende finden zu jedem Wunsch ein passendes Angebot und der Markt ist nicht reguliert. Genau dort liegt das Problem.

Für Konsument*innen ist es schwer, seriöse und nachhaltige Angebote von Greenwashing oder sogar Betrugsfällen wie beispielsweise »Fake-Waisenhäusern« zu unterscheiden. In diesen Fällen haben die Kinder noch Eltern und sind einfach nur Teil eines Geschäftsmodells geworden, quasi zum Produkt und Werbemittel.

Wir sind der Meinung, dass einerseits mehr aufgeklärt werden muss, damit Reisende informierte und nachhaltige Entscheidungen treffen können. Trotzdem brauchen wir genauso rechtliche Rahmenbedingungen, zum Beispiel Background-Checks für Freiwilligenhelfer*innen, die im Ausland Kontakt zu Kindern haben oder eine Qualitätsprüfung, die sicherstellt, dass es sich bei Reiseangeboten wirklich um verantwortungsvolle Angebote handelt.

Verantwortungsvolles Volunteering startet mit einer simplen Frage: Warum möchte ich helfen? Was ist meine Intention? In unserer Arbeit haben wir festgestellt, dass viele sich diese Frage bisher noch nicht gestellt haben. Auch die ausländischen Projekte bestätigen diese Beobachtung. Anschließend geht es darum, selbst zu reflektieren: Was kann ich beitragen? Welchen Wert habe ich für die Organisation? Und was möchte ich lernen?

Das Wichtigste ist, dass das Profil und die Fähigkeiten des Helfers*der Helferin zu der Organisation und ihren Kapazitäten passen. Ohne pädagogisches Wissen, ohne Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und mit holprigem Durchschnitts-Englisch, sollte ich einfach nicht unterrichten.

Auf der anderen Seite steht die Organisation: Haben sie die Zeit, eine*n Freiwilligenhelfer*in zu betreuen und einzuarbeiten? Wenn ich tagelang eingearbeitet und kontinuierlich betreut werden muss, verbrauche ich Ressourcen, die unter Umständen besser für die Arbeit der Organisation verwendet werden könnten.

Fünf lächelnde Kinder, die ein V Friedenszeichen mit ihren Fingern formen
Photo by Larm Rmah on Unsplash.com

Woran erkenne ich seriöse Entsendeorganisationen und worauf sollte ich bei der Auswahl der Projekte achten, wenn ich als Volunteer im Ausland wirklich tatkräftig anpacken und nicht nur »Voluntourism« betreiben möchte?

Kathrin: Seriöse Entsendeorganisationen stellen ihre Arbeit in den Vordergrund und suchen spezifische Unterstützung für ihr Projekt. Vorsichtig sollte man sein, wenn auf der Website der Spaß oder das Abenteuer des Volunteers im Vordergrund steht. Außerdem ist es wichtig darauf zu achten, wie das Wording gewählt wurde. Wird über die Arbeit, Ziele und Visionen gesprochen oder hört es sich eher nach »Armutstourismus« an, bei welchem die Volunteers als »Retter*innen« darstellt werden?

Wichtig ist auch die Bezahlung bzw. der Preis der Reise. Wird transparent aufgeschlüsselt, wohin welcher Betrag geht? Ist ersichtlich, dass der Großteil wirklich dem Projekt und nicht einem Vermittler zugute kommt? Und wie ist das Auswahlverfahren organisiert? Seriöse Anbieter zeichnen sich durch eine gute Vorbereitung der Volunteers aus und prüfen ihre Bewerber*innen ausgiebig. Voluntourismus-Anbieter hingegen nehmen quasi jede*n, der*die genug Geld hat.

Je länger ein Freiwilligendienst dauert, desto besser. Grundsätzlich gilt, je weniger Erfahrung der Volunteer mitbringt, desto länger sollte er bleiben - so gleichen sich quasi der Aufwand der Ausbildung und der Ertrag der Arbeit aus. Projekte im direkten Kontakt mit Tieren (ohne Ausbildung) oder Kindern sollten generell eher gemieden werden.

Es gibt natürlich noch viele weitere Punkte, aber das Wichtigste bleibt aus meiner Sicht, viele Fragen zu stellen und kritisch zuzuhören. Wenn sich ein Angebot zu gut anhört, um wahr zu sein, dann ist es das wahrscheinlich auch.

Wie kann in der Reise- und Volunteering-Branche mehr Transparenz geschaffen werden?

Kathrin: Wir sind der Meinung, dass eine nachhaltige Veränderung aus drei Perspektiven heraus geschehen muss. Einerseits braucht es informierte Reisende, die sich bewusst gegen Waisenhaus-Tourismus und fragwürdige Angebote entscheiden. Andererseits braucht es klare rechtliche Rahmenbedingungen von Seiten der Politik. Kindesschutz muss über die Grenzen hinweg gewahrt werden und Menschen sollten weltweit vor Ausbeutung geschützt werden.

Darüber hinaus sind Entwicklungsdruck und Veränderungswille in der Industrie wichtig. Viele Angebote beim Volunteering werden über große Plattformen oder Vermittler vertrieben. Oft wissen diese selbst nicht, wie verantwortungsvoll die Projekte sind und verkaufen diese einfach ungeprüft weiter.

Für einen echten Wandel braucht es eine Veränderung auf allen Seiten.

Wie können wir wirklich nachhaltig und authentisch reisen? Was können wir selbst ganz konkret als Individuen z.B. bei unserer Urlaubsgestaltung tun und wo braucht es richtungsweisende politische Maßnahmen?

Kathrin: Ihr sprecht mit der Frage ein wichtiges Spannungsfeld an, besonders im Tourismus. Nachhaltiges Reisen startet in den Köpfen der Menschen oft mit der CO2-reduzierten Anreise. So wichtig das auch ist, so schwierig ist es umzusetzen, wenn Kerosin nicht besteuert wird und ein Flugticket oft günstiger bleibt, als eine Zugfahrt.

Wir glauben, nachhaltiges und authentisches Reisen startet bereits vor der Wahl des Reiseziels. Um authentisch zu reisen, sollte ich zunächst überlegen: Was bedeutet »authentisch« für mich? Welche Bilder habe ich vor der Reise schon im Kopf und welche Vorurteile stehen mir vielleicht im Weg? Solche »Filter« prägen unsere Wahrnehmung und verbauen uns häufig die »authentische« Reise. In der Psychologie spricht man hier von kognitiver Verzerrung, wenn wir Informationen, die unserem Weltbild entgegenstehen, unterbewusst wegschieben (kognitive Dissonanz) und unterbewusst nach Bestätigung suchen (Confirmation Bias) - auf diese Weise werden heute noch jahrzehnte alte Stereotypen aufrecht erhalten, obwohl wir es - theoretisch - besser wissen könnten.

Wenn wir uns vor der Reise fragen, was uns wichtig ist, was wir erfahren wollen und dabei (brutal) ehrlich zu uns bleiben, erhalten wir die Chance auf ein ganz neues Reiseerlebnis. Nämlich eines, bei dem uns weder Reiseanbieter noch Medien vorgeben, was wir zu sehen und zu erleben haben. Eines, bei dem wir vielleicht wirklich unseren Horizont erweitern, statt wieder nur den erweiterten Horizont der anderen zu besichtigen.

Besonders im Bereich des authentischen Reisens sind politische Maßnahmen schwierig. Es wäre schön, wenn wir ein Gesetz veranlassen könnten, dass uns dazu bringt, Vorurteile abzulegen, Kulturen ungefiltert wahrzunehmen und Menschen offen zu begegnen. Die Politik kann allerdings nur beeinflussen, wie wir handeln - nicht, wie wir denken. Veränderung beginnt häufig im Kopf, deswegen setzen wir bei give & grow so stark auf den sozialen Aspekt und Wissensvermittlung.

Ein spannendes Phänomen, gerade in den jüngeren und damit größtenteils sehr klimabewussten Generationen, ist die sogenannte Flugscham. Inwieweit ist diese gerechtfertigt? Darf man streng genommen als nachhaltigkeitsbewusste Person nun gar nicht mehr fliegen?

Kathrin: In unserem Online-Kurs zum Thema Flugscham hat es die Psychotherapeutin Dr. Monika Krimmer gut auf den Punkt gebracht: »Wir (Psychologists for Future) sind zu dem Entschluss gekommen, dass das Schamgefühl die gesellschaftliche Veränderung nicht herbeiführen kann, sondern eher lähmen würde.«

Scham ist ein individuell erworbenes bzw. erlerntes Phänomen. Im Gegensatz zur Schuld liegt der Fokus sehr stark auf der Person selbst. Bei Schuld geht es vornehmlich um das Handeln. Wer sich schuldig fühlt, möchte seine Taten wieder gut machen. Wer sich schämt, will sprichwörtlich vom Erdboden verschluckt werden - was nicht bedeutet, dass die Person etwas ändert, sondern nur, dass sie sich versteckt. In den letzten Jahren hat Flugscham zwar dafür gesorgt, dass wir mehr über die Auswirkungen des Fliegens sprechen, aber es scheint die individuellen Entscheidungen nur geringfügig zu beeinflussen (Studie von S. Gössling). Die Menschen schämen sich, fliegen aber trotzdem.

Wir glauben, dass Entscheidungen dieser Art sehr individuell sind. Solange wir keine gesetzlichen Vorgaben in diesem Bereich haben, muss jede*r von uns Entscheidungen wie diese mit dem eigenen Wertekompass abgleichen. Es gibt aktuell keine finale Antwort auf diese Frage. Ist es in Ordnung, für mehrere Monate auf einem anderen Kontinent zu helfen und dafür keine Wochenendtrips innerhalb Europas zu unternehmen? Ist es besser, sein »Urlaubsgeld« zu spenden, statt Menschen und Ländern weltweit die Gelegenheit und damit die Würde zu geben, sich diese Einnahmen zu verdienen? Flugscham ist verankert in einem Natur und Wirtschaftskonflikt - im Kern ist es allerdings ein moralisches Dilemma, eines der Probleme, die in der Regel nicht mit einer Pro- und Contra-Liste zu lösen sind. Mit Flugscham wird der Fokus stark auf das Individuum gelenkt, was wir aber brauchen, sind systematische Lösungen und moralischer Konsens. Statt sich gegenseitig in den Matsch zu stoßen, sollten wir an einem Strang ziehen, um den Karren aus dem Dreck zu bewegen.

Wie kann ich die auf eurer Seite vorgeschlagenen Projekte unterstützen? Wie sieht der Prozess aus, wenn ich genau dort als Volunteer tätig werden möchte?

Kathrin: Wir haben die Projekte, die wir selbst besucht haben, als Partner-Projekte auf der Website immer noch gelistet. Wir halten außerdem die Infos auf der Website aktuell und möchten so auf die tollen Initiativen von lokalen Communities aufmerksam machen. Wer möchte, kann direkt über einen Link an die Organisationen spenden. Sollte jemand vor Ort helfen wollen, vermitteln wir gerne den Kontakt und überlassen die Bearbeitung und Prüfung jedoch komplett den Organisationen selbst. Unser Hauptfokus ist die unabhängige Aufklärung und Bildungsarbeit.

Wie kann ich euch und die einzelnen Projekte auch von Zuhause aus unterstützen?

Kathrin: Wir sind als Projekt gemeinnützig und können daher Spenden annehmen und entsprechende Belege ausstellen. Über unsere Website kann jeder direkt an uns spenden. Dasselbe gilt für unsere Partner-Projekte.

Der beste Weg uns zu unterstützen ist aber vermutlich, sich für unsere Kurse anzumelden und die Learnings mit anderen zu teilen. Auf diese Weise verzeichnet give & grow als gemeinnütziges Unternehmen seinen größten Erfolg - wenn unsere Arbeit die Menschen und Reisenden wirklich erreicht.

Da wir offiziell dieses Jahr erst gestartet sind und immer wieder auf der Suche nach Unterstützung und neuen Ideen sind, laden wir außerdem alle herzlich ein, sich bei uns zu melden. Mit einem digitalen Engagement kann man uns helfen, sichtbarer zu werden und noch wirkungsvollerer Projekte zu gestalten, die die Reise- und Volunteering-Industrie verändern.

Wie wollt ihr give and grow in Zukunft weiterentwickeln? Werdet ihr z.B. auch mal eigene Reisen anbieten und/oder seriöse Anbieter auf eurer Plattform listen?

Kathrin: Uns ist es sehr wichtig, unabhängig zu bleiben und entsprechend aus dieser Position heraus zu arbeiten. Aktuell werden wir daher keine eigenen Reiseangebote entwickeln. Als leidenschaftliche Individualreisende fällt es uns auch ein wenig schwer, “pauschalere” Angebote zu vertreten und authentisch zu bleiben. Nichtsdestotrotz empfehlen wir auf unseren Kanälen und in unseren Online-Kursen unterschiedliche nachhaltige Anbieter und Anlaufstellen, bei denen sich Reisende ein gutes Bild machen können.

Aktuell planen wir für 2022 einen umfassenden Kurs zum Thema Volunteering. Wir werden in dem Projekt genau messen, welchen Unterschied der Kurs für die Reiseerfahrung der Volunteers ausmacht und was die Organisationen vor Ort berichten - Eine komplette Ausbildung zum verantwortungsvollen Volunteer.

Außerdem starten wir aktuell mit Workshops an Schulen in Köln zum Thema »Auslandsjahr - Reisen und Helfen nach der Schule« - Diese Art von Workshops möchten wir auf jeden Fall noch ausbauen.

Wir streben mit allem was wir tun danach, die Welt des Reisens zu verändern und wir sind uns sicher, dass der Weg dahin nicht über die Wirtschaft und nicht über neue Technologien führen wird. Wir glauben, die Veränderung die es braucht, stellt Menschen in den Mittelpunkt.

Gründungsteam von give and grow
Photo by Debbie Ulrich

Über Kathrin David und give and grow

Als Kathrin sich Anfang 2018 auf ihre Reise begab, ging sie mit dem Ziel los, von der Welt zu lernen. Ihre Idee war es, über nachhaltige und lokale Projekte aus den Ländern zu berichten, die sie bereiste. Kathrin wollte Nachhaltigkeits-Lösungen sichtbar und lauter machen, als all die Probleme, die täglich ohnehin schon laut werden. Bereits nach kurzer Zeit kamen Fragen in ihr auf: Warum kennen wir so viele lokale Projekte nicht? Wieso läuft in der Reise- und Volunteering-Industrie so viel verkehrt? Mit give & grow möchte siediese Fragen beantworten, denn Kathrin hat auf ihrer Reise vor allem eines gelernt: Wir können alle voneinander lernen, wenn wir uns für neue Blickwinkel öffnen und anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen.

Hier geht es lang zur Webseite von give and grow.

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