Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Thema Feinfühligkeit im Berufsleben zu beschäftigen? Möchten Sie ein bisschen über Ihren persönlichen Weg erzählen?
Nicole Lindner: Gerne. Ich war ziemlich lange erfolgreich im kaufmännischen Bereich tätig, habe auf dem zweiten Bildungsweg das Fachabitur gemacht und stieg dann in einen sozialpädagogischen Beruf ein. Anfangs fand ich den Berufswechsel noch ziemlich spannend, doch mit der Zeit merkte ich, dass ich plötzlich total gestresst war und nicht mehr runterkam.
Damals absolvierte ich neben einem anspruchsvollen Job noch zwei Zusatzausbildungen und renovierte mit meinem Partner ein altes Haus, daneben vernachlässigte ich das regelmäßige Essen und gönnte mir keinerlei Ruhe – irgendwann kam der Zusammenbruch und es ging gar nichts mehr.
Wenn du morgens zwei Stunden brauchst, um aufzustehen, fängst du an, dein Leben in Frage zu stellen. Deswegen suchte ich an verschiedenen Stellen nach Antworten, absolvierte eine Therapie und änderte schließlich mein Verhalten. Durch Zufall stieß ich während dieser Zeit auch auf ein Buch, das sich mit dem Thema Feinfühligkeit beschäftigte und mich nicht mehr losließ – zum Glück, behaupte ich heute, denn genau das war der Startschuss für ein neues Leben und Arbeiten, das meiner feinfühligen Persönlichkeit viel besser entspricht.
In Ihrem Buch »Feinfühligkeit trifft auf Berufsleben« definieren Sie feinfühlige Menschen als Personen, die »introvertiert und/oder hochsensibel« sind. Mich interessiert besonders die Kombination introvertiert und hochsensibel. Welche Herausforderungen ergeben sich im Berufsleben für Personen, bei denen genau diese beiden Persönlichkeitsmerkmale besonders stark ausgeprägt sind?
Nicole Lindner: Introvertierte Personen sind eher nach innen gekehrt, sie schöpfen ihre Energie aus der Ruhe und im Beisammensein mit Vertrauten. Bei Hochsensiblen ist das ähnlich, nur verfügen sie darüber hinaus noch über ein besonders sensibles Nervensystem, d.h. sie nehmen alles, was sie sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen, intensiver wahr und brauchen länger, um es zu verarbeiten. Sind bei einer Person beide Persönlichkeitsmerkmale besonders stark ausgeprägt, führt das zu einer deutlich erhöhten Stressanfälligkeit und in der Folge nicht selten zu Schwierigkeiten im Berufsleben.
Wie können diese Herausforderungen gemeistert werden?
Nicole Lindner: Wichtig ist auf jeden Fall, die ganz persönlichen Stressfaktoren zu erkennen und so gut es geht zu eliminieren. Das ist gar nicht so einfach, denn nicht jeder hochsensible und/oder introvertierte Mensch ist gleich. Was für eine Person vielleicht anstrengend (aber trotzdem bewältigbar) ist, kann für eine andere eine komplette Überforderung darstellen – je nachdem, wie ausgeprägt die individuelle Sensibilität ist, welche Ursprünge sie hat oder wie das Umfeld sich gestaltet. Deshalb sollte sich jeder feinfühlige Mensch so gut es geht selbst kennen und wissen, was er im Leben (und im Beruf) will und braucht. Grundsätzlich brauchen Feinfühlige nämlich ein berufliches Umfeld, das von Wertschätzung, Respekt, Sinn und eigenverantwortlichem Arbeiten geprägt ist. Wird ihnen das zuteil, laufen sie zur Höchstform auf – auf ihre ganz eigene Art und Weise und auch zum Vorteil für das Unternehmen.
Was ebenfalls nützlich ist: Das eigene Berufsprofil kennen. Dieses findet man heraus, indem man sich vier Fragen stellt, welche lauten: Wo will ich arbeiten? Mit wem will ich arbeiten? Wie will ich arbeiten und unter welchen Bedingungen will ich arbeiten? In meinem Ratgeber »Feinfühligkeit trifft auf Berufsleben. Wie Sie Beruf und Ihr Naturell in Einklang bringen können« gehe ich intensiv auf diese Thematik ein.
In dem Buch gehen Sie ebenfalls darauf ein, welche Rolle ein minimalistischer Lebensstil für solche Menschen spielt. Möchten Sie das an dieser Stelle unseren Leser*innen kurz erklären?
Nicole Lindner: Das Problem in unserer heutigen Arbeitswelt ist, dass es immer noch ganz bestimmte Vorstellungen gibt, wie oder wie viel »man« zu arbeiten hat. Schlägt ein Mensch einen unkonventionellen Weg ein (arbeitet z.B. freiwillig »nur« Teilzeit usw.) wird er schnell schief angesehen. Doch genau ein unkonventioneller Weg wie dieser schafft enorm große Freiheit – natürlich nur, sofern man es schafft, den persönlichen Lebensstandard auch dem jeweiligen neuen Einkommen anzupassen.
Daneben formen sich aus einer bewusst gewählten Teilzeitbeschäftigung gerade in beruflicher Hinsicht wieder völlig neue Möglichkeiten: Man kann z.B. eine nebenberufliche Selbstständigkeit starten, sich für einen befriedigenderen Job weiterbilden, Praktika absolvieren oder sich ganz einfach vom Arbeitsalltag und der häufig damit verbundenen Reizüberflutung erholen.
So nehmen sich sensible Personen ganz entspannt selbst den Druck, in unserer Leistungsgesellschaft immer »funktionieren« zu müssen und schaffen sich die dringend benötigten Ruheinseln. Auch aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich es nie wieder anders machen würde.
Menschen, die gleichzeitig introvertiert und hochsensibel sind, haben nicht selten sehr bunte und vielfältige Lebensläufe, da ihnen die Suche nach einem passenden Beruf(sumfeld) oft schwer fällt. Wie können sie diese »Umbrüche« als Potenzial sehen anstatt sich mangelnde Zielstrebigkeit vorzuwerfen bzw. vorwerfen zu lassen?
Nicole Lindner: Über meinen Blog bekomme ich viele Nachrichten von Feinfühligen, die genau dieses Problem haben und sich selbst dafür verurteilen, dass sie schon so viele berufliche Umbrüche im Leben hatten.
Diesen Menschen versuche ich immer zu vermitteln, dass sie sich davon nicht entmutigen lassen und weiter an ihre Fähigkeiten glauben sollen – egal, wie andere darüber urteilen. Natürlich ist das nicht leicht, doch vielfältige berufliche Erfahrungen haben auch ihre Vorteile: Man hat seine Fähigkeiten weiterentwickelt und kann sich gemeinhin sehr schnell in neue Themengebiete einarbeiten. Schlimmstenfalls erkennt man für die Zukunft zumindest das, was man NICHT mehr will.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass es für jeden Menschen ein berufliches Umfeld gibt, das zu ihm passt. Grundvoraussetzung dafür ist, dass man genau weiß, was der individuellen Persönlichkeit entspricht, und sich diese Stellen sucht. Zugegeben ist das in der heutigen Zeit eine Herausforderung, es gibt jedoch Komponenten, die den erfolgreichen Einstieg in einen Job begünstigen. Zum Beispiel rate ich immer dazu, sich schon beim Vorstellungsgespräch zu fragen, wie man sich fühlt, d.h. kann ich mir vorstellen, mit diesen Menschen zu arbeiten? Gefällt mir das Umfeld, der Arbeitsplatz, die direkten Kolleg*innen? Wie sind die Rahmenbedingungen des Arbeitsplatzes und der Tätigkeit? Kann ich meine Fähigkeiten entsprechend einsetzen?
Ein unverbindlicher Weg, um dies festzustellen, können z.B. Probearbeitstage sein. Hier lernen sich das Unternehmen und der*die Bewerber*in viel intensiver kennen als nur im Vorstellungsgespräch – und können schließlich auf Grundlage einer soliden Basis entscheiden, ob sie es in einem Arbeitsverhältnis miteinander versuchen wollen.
Über welche besonderen Stärken verfügen Personen mit diesen beiden Persönlichkeitsmerkmalen und wie können diese aktiv in der eigenen Karriere gelebt und weiterentwickelt werden?
Nicole Lindner: Feinfühlige Menschen sind häufig sehr verantwortungsbewusst sowie gute Denker*innen und Problemlöser*innen. Genauso sind sie vielseitig interessiert, äußerst bedacht im Umgang mit anderen, gute Zuhörer*innen und tun sich leicht, komplexe Inhalte schnell zu erfassen.
Darüber hinaus haben sie nicht selten einen übergeordneten Blick auf das Ganze und erkennen das Wesentliche. Wenn sie eine Arbeit erledigen, dann tun sie es mit großem Eifer und Genauigkeit – man kann sich sicher sein, dass die Arbeitsergebnisse, die sie am Ende präsentieren, Hand und Fuß haben.
Hierzu brauchen Feinfühlige aber die nötige Ruhe, hektisches Treiben, Störungen und ständiger Input unterschiedlichster Art liegen ihnen nicht und bringen sie aus dem Konzept. Um die Karriere den eigenen Fähigkeiten anzupassen, ist es wie bereits erwähnt enorm wichtig, sich in einem Umfeld zu bewegen, das den eigenen Stärken entgegenkommt. Es nützt nichts, wenn man ständig darum bemüht ist, Schwächen auszugleichen,anstatt die naturgegebenen Gaben zu nutzen. Das ist wie bei einem Pinguin, der sich auf dem Land meist ziemlich unbeholfen bewegt, im Wasser hingegen ist er schnell und wendig, d.h. er bewegt sich in dem für ihn optimalen Element.
Viele feinfühlige Menschen verfügen über eine besonders starke Intuition. Diese ist jedoch (ebenfalls) leise und wird daher oft überhört. Wie können Feinfühlige wieder Zugang zu dieser Superkraft finden und sie immer mehr stärken?
Nicole Lindner: Ein gutes Intuitionsvermögen ist die Gabe vieler Feinfühliger, doch oftmals wird sie überhört oder schlichtweg nicht ernst genommen. Um wieder Zugang zur eigenen Intuition zu bekommen, bietet es sich an, sich regelmäßig Zeit für sich zu nehmen. Wie diese Zeit verbracht wird, bleibt jedem*jeder selbst überlassen. So ist es z.B. möglich, Yoga zu machen, alleine mit sich an einem schönen Ort zu sitzen, in eine Kerze zu schauen oder in die Natur zu gehen.
Weiterhin können sich Sensible kreativ beschäftigen, das schafft eine direkte Verbindung zur Intuition, welche sich gut über das kreative Tun ausdrücken kann. So kann ich z.B. einen Tanzkurs absolvieren, malen oder töpfern. Oder auch Bogenschießen bzw. Golf spielen ist möglich. Alles, was ich kreativ unternehme, kann mein intuitives Wahrnehmen fördern. Wichtig hierzu ist immer die Neugier und grundsätzliches Interesse, alles andere kommt dann wie von selbst.
Gibt es bestimmte Berufe, die besonders geeignet für introvertierte und sehr sensible Menschen sind? Und umgekehrt - gibt es Berufszweige, von welchen Sie Menschen mit dieser Kombination eher abraten würden?
Nicole Lindner: Da sensibler Mensch nicht gleich sensibler Mensch ist, möchte ich niemanden zu einem bestimmten Beruf raten. Egal, ob introvertiert oder sehr empfindsam – jede*r hat individuelle Veranlagungen, Vorlieben, Stärken und Schwächen, die es gilt, im Berufsleben so passgenau wie möglich einzusetzen.
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass viele Feinfühlige von einem wertschätzenden, sinnstiftenden Umfeld profitieren, in dem sie ihre Arbeitsaufgaben in Ruhe und eigenverantwortlich erledigen können. Sie sind z.B. sehr gut für soziale Berufe geeignet, allerdings müssen Sie hier aufpassen, dass sie sich genügend abgrenzen können. Auch körperorientierte Berufe bieten sich an, wie z.B. Masseur*in, Physiotherapeut*in, Ergotherapeut*in usw. Viele arbeiten darüber hinaus als Designer*innen, Journalist*innen, Fotograf*innen usw.
Hingegen ein hohes Maß an Kontrolle, Reizüberflutung (z.B. lautes Büro, Störfaktoren wie Telefonklingeln, häufiger Kundenkontakt, mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen) ist nicht so das, was Sensiblen entgegenkommt. Im Zweifel macht es ferner einen Unterschied, ob eine sensible Person Voll- oder Teilzeit arbeitet, bei Teilzeit kann einer möglichen Überforderung zumindest zeitlich ein Limit gesetzt werden. Oder man arbeitet gleich auf selbständiger Basis. Hier muss man immer wieder in sich hinein fühlen, was sich richtig anfühlt – und dementsprechend handeln.
Was sind Scanner und High Sensation Seeker und wie hängt das mit Feinfühligkeit zusammen? Wie kann ich herausfinden, ob ich ein Scanner oder High Sensation Seeker bin und wie kann mir dieses Wissen bei der Berufswahl helfen?
Nicole Lindner: Scanner sind Hochsensible, die eine ausgeprägte Alarmbereitschaft des Nervensystems besitzen, d.h. sie nehmen viele Informationen auf einmal auf und haben ihre Umgebung stets gut im Blick. Im Privat- und Berufsleben zeigt sich das oft durch wechselnde Arbeitsstellen sowie Interessensgebiete usw. Die meisten Scanner langweilen sich schnell, dafür sind sie aber vielbegabt, unglaublich wandelbar und lieben die Veränderung – leider nicht immer so gut vereinbar mit den Anforderungen eines »geraden« Lebenslaufs, den unsere Gesellschaft so häufig vorgibt.
Etwa 30 Prozent der Hochsensiblen gelten als »High Sensation Seeker« (HSS) diese Gruppe ist ständig auf der Suche nach starken Gefühlen – die Ursache dafür ist, dass sie ständig neue Reize brauchen, um sich wohlzufühlen. Gute Chancen, ein HSS zu sein, habe ich, wenn ich ständig auf Abenteuersuche bin, am liebsten die Welt bereise oder sportlich gerne an meine Grenzen gehe (z.B. Extremsportler*innen). Gift für einen HSS ist es auf jeden Fall, zuhause auf der Couch zu sitzen oder jeden Tag das Gleiche zu erleben – der Nervenkitzel würde einfach zu kurz kommen.
Um herauszufinden, wie stark die Sensibilität ausgeprägt ist, empfehle ich einen Besuch auf der Website von Zart Besaited, einem Verein, der sich schon seit 15 Jahren intensiv mit dem Thema Hochsensibilität beschäftigt. Hier finden Interessierte einen kostenlosen Test, den sie anonym absolvieren können.
Was genau bedeutet für Sie persönlich sinnerfülltes Arbeiten?
Nicole Lindner: Für mich persönlich bedeutet sinnerfülltes Arbeiten eine Tätigkeit, bei der ich selbstbestimmt, eigenverantwortlich und kreativ tätig sein kann und dabei gleichzeitig anderen Menschen helfe. Glücklicherweise ist mir das durch meine Autorentätigkeit sowie durch das Betreiben von Mein Weg - dein Weg gelungen.
Das Schönste aber für mich ist es, zu hören, dass jemand durch mein Wirken einen Impuls bekommen hat, der ihn*sie im Leben weiterbringt. Mehr brauche ich nicht, um glücklich zu sein.
Über Nicole Lindner und Mein Weg - dein Weg:
Nicole Lindner ist Sozialpädagogin und Trainerin für Biografisches Arbeiten. Das war aber nicht immer so. Lange Jahre arbeitete sie nach einer kaufmännischen Ausbildung in der Wirtschaft, bis sie sich beruflich neu orientierte. Während dieser Zeit hat sie viel erlebt und gelernt, wovon sie noch heute profitiert. Auf ihrer Webseite Mein Weg - dein Weg betreibt sie einen Blog und bietet Selbstcoaching-Kurse für Feinfühlige an. »Heute kann ich sagen, dass ich das mache, wozu ich mich berufen fühle: Empfindsame Menschen in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen und ihnen Orientierung zu bieten.«