Ich erinnere mich noch gut an meine eigene berufliche Neuorientierung. Nach zwölf Jahren in einem Konzern, in dem ich mich von der Praktikantin bis zur Bereichsleitung hochgearbeitet hatte, stand ich da mit einem Titel ›Head of Irgendwas‹ und einem sechsstelligen Jahresgehalt und hatte auf einmal Sorge: Ich kann gar nichts wirklich!? Klarer Fall von »Kompetenzamnesie« (danke für den Begriff, Ulrike Clasen)! Bei der Jobsuche und ganz besonders im Bewerbungsprozess kann eine:n schon einmal das Gefühl beschleichen, dass die eigenen Kompetenzen nichts mehr wert sind. Was man bisher gemacht hat, erscheint einem leicht, selbstverständlich, nicht der Rede wert. Und was in den Stellenanzeigen gefragt wird, erscheint einem hochgradig komplex und unerfüllbar. Man ist zu alt, noch zu jung, zu spezialisiert, zu generalistisch aufgestellt, zu wenig davon, zu viel hiervon – irgendwas ist immer. Das umso mehr, wenn man etwas verändern will, die Branche wechseln, etwas anderes tun, das Aufgabenspektrum erweitern und sich eben NEU ausrichten möchte! Dann fehlt einem auch mit 25-jähriger Berufslaufbahn auf einmal die entscheidende ›einschlägige‹ Erfahrung. Viele Coaches und Berater:innen raten allzu oft noch: Schuster:in, bleib bei deinen Leisten!
Ich sage: Heutzutage gibt es Jobs, zu denen wir schlicht keine Erfahrung sammeln konnten. Einfach, weil es sie nämlich noch gar nicht gab. Und das liegt nicht nur an skurrilen Titeln wie Disciplin Coach, Venture Architect, Leading Feel Good Manager, New Work Operations & Facility Management, Competency Leader. Das liegt auch einfach daran, dass wir in komplexen Zeiten agieren, in denen sich Bedingungen schnell ändern können. Studiengänge entstehen neu, Methoden professionalisieren sich, Märkte verändern sich durch Startups, neue Produkte, neues Wissen und Technologien. Und genau so verändern sich auch die Anforderungen und Arbeitsaufgaben verlagern sich, es entstehen ganz neue Kombinationen von Tätigkeiten und damit auch ganz neue Jobs. Was bringt es also, sich Kompetenzen anzueignen, sich noch mehr Wissen drauf zu schaffen, weiter zu optimieren – wenn sie irgendwann obsolet werden oder ganz andere wichtig sind? Meine Eltern konnten der jungen Juliane ja kaum mitgeben: »Werde du mal Innovationscoach, das da hast du was Sicheres!«
Und da kommt die Selbstwirksamkeit ins Spiel: Selbstwirksamkeit heißt nicht nur, sich seiner eigenen Wirksamkeit bewusst sein, sondern heißt: Sich sicher zu sein, mit den vorhandenen Fähigkeiten, etwas zu bewirken. »It is concerned not with the skills one have but with the judgements of what one can do with whatever skills one posseses1«, formuliert es der Begründer des Konzeptes Albert Bandura 1997.
Während der Jobsuche kommt erschwerend hinzu, dass uns eben genau diese Selbstwirksamkeitserwartung abhandenkommt: Uns geht die Fähigkeit verloren, unsere vorhandenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen und als wertvoll wahrzunehmen. Weil wir ständig von eierlegenden Wollmilchsäuen lesen: teamfähig, belastbar, mit zwei Ausbildungen im Handwerk und einem akademischen Studium, mindestens, und natürlich ausreichend Berufserfahrung im Ausland, 3 Sprachen fließend und dabei immer engagiert auch in der eigenen Weiterbildung und im Ehrenamt. Stellenanzeigen fordern Zertifikate, Studienabschlüsse, Noten, die nachzuweisen sind. Auch 4 Jahre intensives Studium erscheinen dann auf einmal wertlos, weil man eben die Abschlussarbeit nicht geschrieben hat. Der Zettel am Ende soll mehr wert sein als deine eigene Erfahrung?! Und im Vorstellungsgespräch oder im Absagebrief erklärt uns jemand freundlich, warum wir die Stelle wieder nicht erhalten haben oder warum man uns leider nur sehr wenig bezahlen kann. Wir erleben uns als unwirksam, als hilflos: nicht gewappnet für den Arbeitsalltag, das eigene Wissen veraltet und sowieso eigentlich nie das Passende studiert. Keine Eier, keine Wolle, nur ein bisschen Rampensau?!
Es liegt nicht an Dir! Auch nicht an einem fehlenden Zertifikat! Nicht an deiner Abschlussnote und erst recht nicht an den fehlenden Kompetenzen! Die hohe Wahrscheinlichkeit einer Absage ist systemimmanent: In Bewerbungsprozessen, die nun mal so angelegt sind, dass immer mehr Menschen eine Absage erhalten als eine Zusage – die Stelle(n) werden ausgeschrieben und damit zu einem ›knappen Gut‹ degradiert. Und Bewerbungsprozesse sind immer ein Vergleich mit anderen, ob du den Job bekommst, hängt nicht davon ab, ob du ›gut‹ bist, sondern ob du einen besseren Tag hattest als der oder die andere!
Und seien wir mal ehrlich: Die gute Erfüllung einer Aufgabe hängt meist weniger davon ab, welche Fähigkeiten ich konkret besitze, sondern viel mehr davon, dass und wie ich meine Fähigkeiten einsetze, weil ich daran glaube, dass ich damit etwas bewirken kann. Wie ich meine Erfahrung und mein Wissen nutze. Wir sollten uns darauf konzentrieren, uns wieder selber ernst zu nehmen, und darauf, wie wir gerne sind, was wir gerne tun und was von all dem Wissen wir auch wirklich gerne wissen2. Die Idee ist, dass wir wieder mehr von dem nutzen, was wir haben statt uns anzupassen und zu optimieren an Arbeitsplätze, die sich ja doch immer wieder verändern: Selbstwirksam werden!
Selbstwirksamkeit entfaltet ihre Kraft im Handeln
Du stärkst deine Selbstwirksamkeit, wenn du dich selbst als wirksam erlebst. Zum Beispiel durch kleine gelingende Momente, in denen Du etwas bewirkst: Wenn du nicht genervt reagierst, obwohl der Sohnemann auf dem Kitaweg schöne Äste entdeckt und ihr doppelt so lang braucht. Wenn dir die Geburtstagsüberraschung gelingt. Wenn du die Zeit vergisst, weil du bei der Workshopvorbereitung in einen Flow kommst. Wenn dir genau der richtige Satz einfällt, als der Chef eine seiner Plattitüden raushaut. Der Nachbarin hilfst, einen Schrank aufzubauen oder einer Kolleg:in einen guten Rat geben konntest. Ja genau, es geht um die Momente, in denen du dich selber magst: achtsam, kreativ, schlagfertig, handwerklich geschickt oder kompetent … was auch immer deine Fähigkeit in diesem Moment ist.
Nichts hilft besser gegen Kompetenzamnesie als die eigenen Fähigkeiten auszuprobieren, um zu prüfen, ob es eine Kompetenz ist, die Du einsetzen willst: Wie fühlte ich mich vor einer Gruppe zu sprechen, wie ging es mir während ich Listen zusammengestellt habe und was war das Beste daran, mir ein Konzept für den Workshop zu überlegen? Warum tat es mir gut, den Rat zu geben? Wieso erlebe ich mich als wirksam, wenn ich einen Schrank aufbaue?
3 Zutaten wie du ins Handeln kommst, um dich wieder selbstwirksam zu wissen: Denken, Sprechen, Handlungserfahrung
1. Denken: Imaginiere eine erste Utopie deines Arbeitslebens. Wie möchtest du in Zukunft arbeiten? Wo - in welcher Umgebung - möchtest du arbeiten? Wer soll dabei sein? Mit wem willst du Ideen schmieden und wer soll das Ergebnis erhalten?
2. Sprechen: Suche dir Verbündete. Zum einen als »Vorbilder«, denn stellvertretende Erfolgserlebnisse sind wichtig für die eigene Selbstwirksamkeit. Vorbilder sind Menschen, die du gut findest oder die ähnlich sind wie du. Was andere schaffen, die ähnlich sind wie wir, das erscheint uns machbar. Aber noch viel wichtiger an Verbündeten ist: Sie sehen das, was du nicht siehst. Sie sehen Fähigkeiten, die dir selbstverständlich erscheinen und ermöglichen dir, blinde Flecken zu sehen und dass du dir selber glaubst.
3. Handlungserfahrung: Mache dir dein eigenes Gerne bewusst: Schaue in die Vergangenheit: Was weißt du gerne? Und was tust du gerne? Wann fühlte es sich leicht und ›nicht wie Arbeit‹ an? In welchen Momenten mochtest du dich selber gerne?
Wenn du das zusammen hast: Dann gehe raus uns stelle dich dem Leben zur Verfügung.
Selbstwirksamkeit bleibt Theorie, wenn du nicht ins Handeln kommst. Jeder noch so kleine Schritt hilft dir, dich kompetenter zu fühlen: Vielleicht merkst du es zuerst nicht, aber du denkst schon einmal kreativer, offener, mutiger, du siehst wieder Lösungen, wenn du dir bewusst wirst, was du getan hast. Martin Walser sagt in Jenseits vom Leben: »Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße3«. Weil der nächste Schritt schon leichter fällt, du wächst mit deinem Tun, mit deinem eigenen Kompetenzerleben und beginnst mehr und mehr, an dich zu glauben4. Das Geheimnis ist: Wenn dir etwas leichtfällt, bist du in großer Gefahr, darin auch gut zu sein! Gut nicht im Sinne von Vergleich, sondern im Sinne von, hier bin ich in meinem Element, hier fühle ich mich wohl, hier tue ich etwas, das ich richtig und wertvoll finde.
Aus eigener Erfahrung weiß ich: Es ist einfacher, sich in eine neue Art des Denkens zu handeln als in eine neue Art des Handelns zu denken. Oder wie der Kabarettist Atze Schröder es auf den Punkt bringt: »Move your ass, your mind willl follow5.«
Flipped Job Market Selbstwirksamkeitsübung
»Die kleinste Einheit der Veränderung ist das Gespräch zwischen zwei Menschen« - Maike Plath in einer Lesung zu »Türwächter:innen der Freiheit«
1. Denken: Stelle dir deine persönliche Utopie so konkret wie möglich vor. Wie soll es dort aussehen, was möchtest du tun und mit welchen Menschen magst du gern arbeiten? Beispiele: Schreibe eine perfekte Stelle für dich aus, male ein Bild oder visualisiere ein Moodboard deiner zukünftigen Arbeitswelt, schreibe die Geschichte eines wunderbaren Tages.
2. Sprechen: Gehe in Resonanz. Suche Menschen, die ähnliches Tun, an ähnlichen Projekten arbeiten, denen es gut geht und dir womöglich sympathisch sind: »Bleibe neugierig, stelle Fragen – interessiert zu sein ist wichtiger als interessant zu sein.« (Jane Fonda)
3. Handeln: Überlege dir einen Moment, in der du deine Fähigkeit bewusst wahrnehmen oder ganz konkret ausprobieren kannst. So klein wie möglich, so bewusst wie nötig! Komme ins Handeln, auch wenn das Handeln erstmal ist, dass du dir bewusst machst, was du in diesem Moment gerne mochtest. Gehe in kleinen Schritten weiter und nutze deine Utopie als Orientierung. Dann kann dich der glückliche Zufall finden!
Über die Gastautorin
Juliane Berghauser Pont ist Innovationscoach und Arbeitswelt-Aktivistin. Mit einem großen Repertoire an agilen Methoden, mit Kreativität und vor allem mit viel Humor begleitet sie Organisationen in Veränderungsprozessen. Ihr potenzial- und handlungsorientierter Ansatz nimmt die Menschen in den Mittelpunkt und befähigt sie, ihre (Arbeits-)Welt mit kreativer Zuversicht zu gestalten: Wissend, dass es sowohl gut ist, ein Ziel zu haben und dass, der Weg oft das Ziel ist. Sie ist vor allem überzeugt vom Prinzip der Serendipity: Das Ziel darf nicht im Weg sein! Dann gelingt es ihr und den Menschen um sie herum, gut darin zu werden, Glück zu haben!
Gemeinsam mit anderen gründete sie deshalb die Flipperium GmbH. Mit der Mission, dem Zufall auf die Sprünge zu helfen: In einer Arbeitswelt, die sich nicht so recht zwischen Jobsuche und Fachkräftemangel entscheiden kann, steht das Flipperium für eine faire Arbeitswelt, in der die vielen wichtigen Aufgaben da draußen gerne (und deswegen: gut) erledigt werden. Von Menschen, die sich als selbstwirksam erleben und denen es gut dabei geht.
Flipped Job Market ist das ›Anti-Bewerbungstraining‹ des Flipperiums: Ein Coaching-Programm, das dich in den Mittelpunkt stellt, nicht den vermeintlichen Traumjob. Gemeinsam mit Verbündeten und doch jede:r für sich arbeitest du heraus, was du gerne in die Arbeitswelt einbringst und was du gerne vorfinden möchtest. Du lernst eine konkrete Netzwerktechnik, den glücklichen Zufall zu nutzen und einen Job zu finden, den du nicht suchen kannst, weil du nicht ahnst, dass es ihn gibt (Serendpity). Ein Programm, das alle Quellen der Selbstwirksamkeit nutzt, um Lust, Gerne und Verantwortung für das eigene Arbeitsleben zu wecken.
Quellen:
1Bandura, Albert (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York: W. H. Freeman.
2Vgl. Narriman, Cathy »Das Gerne-Prinzip« 2023, Microtext
3Zitiert aus Lehner, C., Weihe, S. (2019). Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße. In: Zwischen Achtsamkeit und Pragmatismus. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58915-1_13
4Vgl. Edward L. Deci, & Richard M. Ryan (2008): Self-Determination Theory: A Macrotheory of Human Motivation, Development, and Health, S. 183. In: Canadian Psychology 49, 182–185
5Atze Schröder zitiert aus Podcast „Betreutes Fühlen – Folge 174: An sich glauben – so steigt deine Selbstwirksamkeit“