Die Mitarbeiterin, die in Meetings kaum etwas sagt, …
Der Kollege, der bei jeder Office-Party als Erster nach Hause geht, …
Diese eine Person im Büro, die irgendwie so unnahbar wirkt,…
Vielleicht kommen Ihnen Charaktere wie diese bekannt vor. In jedem Unternehmen gibt es diese Persönlichkeitstypen, denen nicht selten Passivität, Desinteresse oder gar Distanziertheit vorgeworfen wird. In den seltensten Fällen ist dies jedoch gerechtfertigt - es handelt sich lediglich um introvertierte Personen, Menschen, deren Energie nach innen anstatt nach außen gerichtet ist, und die in reizarmen Umgebungen ihre beste Leistung erbringen können. Bill Gates, Simon Sinek, Mark Zuckerberg und Albert Einstein sind Beispiele von Menschen mit einer eher introvertierten Persönlichkeit.
Was ist Introversion?
Introversion und Extraversion sind zwei Endpunkte einer Skala. Das bedeutet, niemand ist »nur« intro- oder »nur« extravertiert. Aber in der Regel tendiert man zu einem der Endpunkte mehr als zum anderen. Es gibt auch ambivertierte Menschen, die in der Mitte liegen und sich mit beidem identifizieren können. Introversion bedeutet nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, Schüchternheit oder Angst vor sozialer Interaktion. Introvertierte Menschen verbringen deshalb so gerne Zeit alleine, weil sie daraus Energie schöpfen. Simon Sinek, Speaker, Autor und Experte für Leadership, erklärt das anhand einer anschaulichen Metapher: Ein introvertierter Mensch wacht morgens auf und hat eine Handvoll Goldstücke (Energie). Mit jeder sozialen Interaktion verliert er eines der Goldstücke. Er bekommt seine Energie wieder zurück, wenn er alleine ist. Eine extravertierte Person wacht morgens ohne Goldstücke auf, gewinnt jedoch mit jeder sozialen Interaktion über den Tag Goldstück für Goldstück hinzu.
Halten wir also fest: Extravertierte Menschen gewinnen Energie aus Kontakt mit anderen Menschen und stimulationsreichen Umgebungen, während introvertierte Personen Ruhe, Stille und Zeit für sich selbst brauchen, um nicht nur ihre Akkus wieder aufzuladen, sondern auch, um ihre besten Leistungen zu bringen.
Warum brauche ich introvertierte Mitarbeitende?
Die Tatsache, dass bei introvertierten Menschen die Energie nach innen gerichtet ist, bringt jede Menge Pluspunkte mit sich. Da introvertierte Menschen sich jedoch ungern selbst in den Mittelpunkt stellen, über ihre Leistungen sprechen und noch dazu häufig unter dem sogenannten Imposter-Syndrom leiden, werden sie leider oft maßlos unterschätzt. Nicht selten merkt man erst, wenn ein:e introvertierte:r Mitarbeitende das Unternehmen bzw. das Team verlassen hat, wie viel diese Person geleistet hat, ohne besonders viel darüber zu sprechen. Ich hoffe, dass ich Sie mit diesem Artikel dazu ermutigen kann, mit einem neuen, wertschätzendem und neugierigem Blick auf die leisen Mitarbeitenden im Team zu schauen. Richten wir daher nun einen Blick auf die natürlichen Fähigkeiten und Stärken introvertierter Personen:
Hochkonzentriertes und fokussiertes Arbeiten
Introvertierte können hochkonzentriert, lange am Stück und sehr fokussiert an einer bestimmten Sache arbeiten. Der Grund, warum sich diese Menschen am liebsten in ein Einzelbüro oder ins Home Office zurückziehen, ist, dass sie ihren Fokus auf ein absolutes Höchstmaß bringen, wenn sie in einer ruhigen Umgebung, alleine und selbstständig arbeiten. Sie können sich dann in Ruhe auf ein Projekt konzentrieren, ohne sich ablenken zu lassen. Dementsprechend hoch ist die Qualität ihrer Arbeitsergebnisse.
Bedachter Umgang mit Entscheidungen und Risiken
Da introvertierte Menschen tendenziell viel und gerne nachdenken, sind sie gute Ratgeber:innen bei wichtigen und strategischen Entscheidungen. Sie mögen dafür etwas mehr Zeit beanspruchen, doch die Entscheidungen, die sie dann treffen, inklusive deren Konsequenzen, sind meist sehr gut durchdacht. Chancen und Risiken werden vorsichtig abgewogen. Das bedeutet nicht, dass Introvertierte generell risikoscheu sind - aber sie sind sich meist bereits vorher über die möglichen Konsequenzen im Klaren und gehen daher weniger impulsiv dabei vor. Sie neigen dazu, kalkulierte Risiken einzugehen, die keine unnötigen Opfer verlangen.
Kreativität und neue Ideen
Eine der größten Stärken stiller Menschen ist ihre Fähigkeit, kreative Lösungen und innovative Ideen zu entwickeln. Zahlreiche Erfindungen und technische Innovationen verdanken wir Personen, die in einem hohen Maße introvertiert sind oder waren. Die Relativitätstheorie, der Apple-Computer sowie Facebook und Google sind nur wenige Beispiele für all die bahnbrechenden Erfindungen, welche durch stille Personen in die Welt gekommen sind. Warum? Weil Alleinsein und Stille den Nährboden für innovative Ideen darstellen. Nicht umsonst sagte Nikola Tesla: »Originalität gedeiht im Verborgenen (...), sei allein, denn dann werden Ideen geboren.« Introvertierte Menschen verbringen gerne viel Zeit alleine mit ihren eigenen Gedanken und genau das macht sie zu kreativen Köpfen und Schöpfer:innen origineller Ideen und Innovationen, die die Welt verändern können.
Hohe Sozialkompetenzen
Das klingt zunächst widersprüchlich. Eben habe ich ja noch geschrieben, dass stille Menschen gerne viel Zeit alleine verbringen. Das stimmt auch, doch es bedeutet nicht, dass diese Menschen deshalb weniger soziale Wesen sind als Extravertierte - ganz im Gegenteil: Introvertierte Personen laden zwar ihre Batterien in der Stille und im Alleinsein auf und arbeiten so auch am besten. Allerdings macht gerade diese nach innen gerichtete Energie sie zu ausgezeichneten Zuhörer:innen und höchst empathischen Menschen. Small Talk ist nicht ihr Ding, jedoch sind sie Meister:innen darin, tiefergehende Gespräche zu führen, gute Fragen zu stellen und ihrem Gegenüber wirklich zuzuhören. Sie erspüren die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen oft intuitiv und lieben es, tiefe und dauerhafte Beziehungen zu ihnen aufzubauen. Gerade dieser Wesenszug macht sie zu unersetzlichen Teammitgliedern und sogar zu Erfolgsmagneten in Gebieten, die scheinbar eher von extravertierten Personen dominiert werden, wie beispielsweise Vertrieb und Verkauf, Public Speaking oder auch Tätigkeiten in Führungspositionen.
Reflektions- und Lernfähigkeit
Wie bereits angedeutet, denken Introvertierte lange und viel nach, ihre innere Gedankenwelt ist reich und komplex. Sie durchdenken nicht nur zukünftige Entscheidungen, sondern reflektieren quasi kontinuierlich ihr eigenes Verhalten und das, was um sie herum passiert, ziehen Erkenntnisse daraus und lernen aus Fehlern und Erfahrungen. Es fällt ihnen daher sehr leicht, komplexe Inhalte und Zusammenhänge zu erfassen, was natürlich auch auf ihre große Beobachtungsgabe zurückzuführen ist.
Detailliebe
Introvertierte Personen haben meist ein besonders gutes Auge für Details. Sie bemerken Nuancen, die anderen Menschen oft entgehen und eignen sich daher z.B. hervorragend für Aufgaben, bei denen Genauigkeit gefragt ist. Auch wenn es einigen von ihnen schwerfällt, ihre Ergebnisse vor mehreren Menschen zu präsentieren - die gewonnenen Informationen sind i.d.R. äußerst gut durchdacht und strukturiert. Denn: Introvertierte ergreifen zwar selten von sich aus das Wort, doch wenn sie sprechen, dann ist es ihnen sehr wichtig, dass das, was sie präsentieren, Substanz hat. Da introvertierte Personen besonders gerne ihre Gedanken in Ruhe ordnen und strukturieren, bevor sie diese mitteilen, bevorzugen sie für vieles die Schriftform. Nicht wenige von ihnen haben deshalb im Laufe ihres Lebens ein auffällig gutes schriftliches Ausdrucksvermögen entwickelt.
Wie gewinne ich introvertierte Personen für mein Unternehmen?
Ich hoffe, die obigen Punkte haben Sie überzeugt, dass stille Wasser tatsächlich tief sind und darin wertvolle Schätze für Ihr nachhaltiges Business liegen. Daher lassen Sie uns nun einen Blick darauf werfen, wie sie diese bereits bei der Personalgewinnung aktiv ansprechen können:
Beachten Sie bereits beim Verfassen der Stellenausschreibung darauf, auf die Persönlichkeit einzugehen, die der/die Mitarbeitende mitbringen sollte. Beschreiben Sie detailliert, dass Sie sich z.B. jemanden wünschen, der/die gut alleine und selbstständig arbeiten kann, wohl kalkulierte Entscheidungen trifft und ein Auge für Details hat. Zeigen Sie introvertierten Kandidat:innen unbedingt bereits in der Ausschreibung, dass diese bei Ihnen genau die Arbeitsbedingungen finden, die sie brauchen, wie z.B. einen ruhigen Arbeitsplatz, die Möglichkeit, im Home Office zu arbeiten, das Einbauen fester Fokuszeiten, in denen ungestörtes Arbeiten möglich ist, usw.
Versuchen Sie, den Bewerbungsprozess aus der Perspektive der Kandidat:innen zu betrachten und fragen Sie sich: An welchen Stellen können wir hier besonders die Introvertierten unter ihnen gut ansprechen? Wie können wir diesen Menschen die Möglichkeit geben, sich besonders gut zu zeigen? Zum Beispiel können Sie um ein Motivationsschreiben (die sogenannte dritte Seite der Bewerbungsunterlagen) bitten. Hier können Personen, die sich schriftlich besser als mündlich ausdrücken, ihre Qualifikationen vermutlich einen Tick besser darstellen als im Gespräch. Dieses Dokument kann dann z.B. das Vorstellungsgespräch um eine wichtige Komponente ergänzen. Vermeiden Sie möglichst, mit zu vielen Vertreter:innen Ihrer Organisation in das Vorstellungsgespräch zu gehen. Je mehr Personen anwesend sind, desto weniger können introvertierte Bewerbende ihre wahre Persönlichkeit zeigen.
Auch bei einem großen Assessment Center besteht die Gefahr, dass genau diese wertvollen Kandidat:innen geradezu übersehen werden. Achten Sie währenddessen ganz besonders auf die Stillen. Viele reflektieren einfach noch das Gesagte der anderen, während die nächsten schon wieder sprechen. Daher kommen sie oft nicht zu Wort. Wenn Sie introvertierten Bewerbenden einen echten Gefallen tun wollen, geben Sie allen Kandidat:innen die Möglichkeit, sich zumindest inhaltlich ein wenig auf das AC und/oder Bewerbungsgespräch vorzubereiten. Das gibt allen Persönlichkeitstypen faire Ausgangsbedingungen, denn Introvertierte brauchen einfach ein wenig länger, um ihre Gedanken auszudrücken als extravertierte Menschen.
Wie binde ich die stillen Superhelden langfristig an meine Organisation?
Wertschätzung
Wie bereits erwähnt, sind Introvertierte häufiger vom sogenannten Imposter-Syndrom betroffen als extravertierte Menschen. Das heißt, sie zweifeln häufiger an der Qualität ihrer Arbeit und/oder an ihrer Qualifikation an sich. Da sie noch dazu ungern im Rampenlicht stehen, sprechen sie seltener über ihre Erfolge. Daher ist es das Größte für Ihre leisen Teammitglieder, wenn Sie ihnen regelmäßig, am besten in einem 1:1 Gespräch, die Möglichkeit geben, ihre Ergebnisse zu zeigen und Sie diese proaktiv wertschätzen.
Arbeitsumgebung
Geben Sie ihren stillen Mitarbeitenden die Ruhe und den Raum zum Arbeiten, die sie brauchen. Für manche von ihnen ist Stille wie die Luft zum Atmen. Sie können einfach in einem Großraumbüro bei Telefonklingeln, Nebengesprächen und anderen Hintergrundgeräuschen nicht ihr Bestes geben. Bieten Sie ihnen also ein eigenes Büro, regelmäßige Rückzugsmöglichkeiten oder am besten die Möglichkeit, den Großteil ihrer Arbeit im Home Office zu erledigen. Introvertierte Menschen kennen sich oft selbst sehr gut und wissen genau, in welchen Arbeitsumfeldern sie beste Ergebnisse erzielen können.
Kommunikation
Zeigen Sie, dass schriftliche Kommunikation immer genauso willkommen ist wie ein persönliches Gespräch. Das Wissen, dass sie ihre Anliegen jederzeit auch per E-Mail mitteilen können, ist für introvertierte Teammitglieder die virtuelle Version der »Tür, die immer offen ist«. Geben Sie ihnen Zeit, ihre Gedanken zu elaborieren und geben Sie ihnen vor allem auch Zeit für Entscheidungen. Leise Menschen haben die Tendenz, auf wichtige Gespräche gut vorbereitet sein zu wollen. Das kann ein Mitarbeitendengespräch, ein Pitch bei Kund:innen oder ein Teammeeting sein. Geben Sie den Mitarbeitenden die Möglichkeit, sich auf solche Gespräche ausreichend vorzubereiten.
Vorbereitung und Moderation von Meetings
Die genialsten Ideen der introvertierten Mitarbeitenden werden Sie sicher nicht in einem Meeting oder Gruppenbrainstorming aus ihnen herausholen. »Alleine« und »in Ruhe« sind die Schlüsselworte, wenn es um die Kreativität introvertierter Personen geht. Es ist daher empfehlenswert, den Mitarbeitenden immer die Möglichkeit zu geben, sich auf ein Meeting vorzubereiten. Versenden Sie vorher ein Protokoll mit den Punkten, die besprochen werden sollen (wenn Sie nicht genau wissen, um welche konkreten Punkte es im Meeting geht, sollte übrigens auch keines stattfinden). Schreiben Sie auch in das Protokoll, was im Meeting von den Mitarbeitenden erwartet wird bzw. was das Ziel des Meetings sein soll - eine Entscheidung? Die Lösung eines bestimmten Problems? Ideenfindung - zu welchem Thema genau? Sie tun sich selbst einen enormen Gefallen, wenn die stillen Mitarbeitenden bereits zuvor alle Informationen haben, die sie brauchen, um sich vor dem Meeting Gedanken über die Entscheidung/Lösung zu machen, bzw. ihre Ideen zu elaborieren. Die Ergebnisse, die Sie dann erhalten, wären aus dem Stegreif nicht möglich gewesen und werden Sie überraschen.
Lassen Sie die Teammitglieder auch immer wissen, dass Follow-Up-E-Mails erwünscht sind. Introvertierte ärgern sich oft, weil ihnen erst im Nachgang gute Ideen und Argumente einfallen, wenn sie sich auf ein bestimmtes Thema nicht ausreichend vorbereiten konnten. Es kann erfolgsentscheidend für Ihr Unternehmen sein, wenn Sie ausdrücklich begrüßen, dass sich jede:r auch nach dem Meeting auch noch einmal schriftlich dazu äußern kann.
Darüber hinaus passiert es häufig, dass ein Meeting von wenigen Personen dominiert wird, die den größten Redeanteil einnehmen. Geben Sie all Ihren Meetings eine Struktur und moderieren Sie sie so, dass jedes Teammitglied mindestens einmal definitiv zu Wort kommt - ansonsten gehen viele Informationen, Ideen und ganz besonders auch wichtige kritische Fragen verloren.
Schärfen Sie Ihren Blick für die Stillen
Ich möchte nun noch einmal auf die fiktiven Persönlichkeiten zurückkommen, die ich ganz zu Beginn beschrieben habe:
Die Mitarbeiterin, die in Meetings kaum etwas sagt, steckt voller kreativer Ideen und ist deshalb so ruhig, weil sie den anderen zuhört und das Gesagte tief verarbeitet.
Der Kollege, der bei jeder Office-Party als Erster nach Hause geht, tut das, weil er seine Batterien wieder aufladen muss, und nicht aus Desinteresse an seinem Team.
Diese eine Person im Büro, die irgendwie so unnahbar wirkt, fragt sich kontinuierlich, wie es ihren Kolleg:innen wohl wirklich geht, abseits vom oberflächlichen Flur-Smalltalk.
Achten Sie bitte ab jetzt ganz besonders auf die Stillen, begegnen Sie ihnen mit Neugier und werten Sie deren Verhalten nicht als Passivität oder Desinteresse.
Und noch ein wichtiger Punkt: Ich möchte mit diesem Artikel auf keinen Fall die Personen abwerten, die sich eher am extrovertierten Ende der Skala befinden. Vielmehr möchte ich denen, die bis jetzt in einer eher extravertierten Arbeitswelt immer wieder übersehen werden, eine Stimme geben und ihre Stärken sichtbarer machen. Beide Persönlichkeitsausprägungen haben ihre Vorteile und Herausforderungen und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass gemischte Teams deutlich besser funktionieren. Sie brauchen natürlich sowohl extravertierte als auch introvertierte Personen in Ihrem Team bzw. in Ihrer Firma. Privat und beruflich ergänzen sich beide Seiten perfekt. Wir brauchen uns gegenseitig, um zu kreativen Lösungen zu kommen und ein bereicherndes Leben zu führen. Lassen Sie uns also Arbeitsumgebungen schaffen, in denen sich sowohl laute als auch leise Menschen gesehen fühlen und ihre beste Leistung bringen können.